Materialverfügbarkeit in fluiden Montagesystemen Manuel Hagg Januar 2025 Berichte aus dem INSTITUT FÜR FÖRDERTECHNIK UND LOGISTIK Institutsleiter: Prof. Dr.-Ing. Robert Schulz UNIVERSITÄT STUTTGART Materialverfügbarkeit in fluiden Montagesystemen Material Availability in Fluid Assembly Systems Von der Fakultät Konstruktions-, Produktions- und Fahrzeugtechnik der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde eines Doktor-Ingenieurs (Dr.-Ing.) genehmigte Abhandlung Vorgelegt von Manuel Hagg aus Ravensburg Hauptberichter: Prof. Dr.-Ing. Robert Schulz Mitberichter: Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl Tag der mündlichen Prüfung: 10.12.2024 Institut für Fördertechnik und Logistik der Universität Stuttgart 2025 Danksagung Die vorliegende Arbeit ist während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Fördertechnik und Logistik (IFT) der Universität Stuttgart entstanden. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr.-Ing. Robert Schulz, für das mir entgegengebrachte Vertrauen, die wertvollen Anregungen und die umfassende Betreuung meiner Forschungsarbeit. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl für die Übernahme des Mitberichts und Herrn Prof. Dr.-Ing. Hans-Christian Möhring für die Übernahme des Vorsitzes im Rahmen meines Promotionsverfahrens. Des Weiteren danke ich meinen ehemaligen Kollegen und Kolleginnen für den wertvollen Aus- tausch, die fachliche Unterstützung sowie die Zusammenarbeit am Institut, wodurch sie maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Besonderer Dank gebührt meinen Eltern und Geschwistern, die mir meinen bisherigen Lebensweg ermöglicht und mich auf diesem begleitet haben. Auch in herausfordernden Momenten haben sie mir stets Mut und Zuversicht zugesprochen. Darüber hinaus bin ich Leonie, die während der Erstellung dieser Arbeit auf viele gemeinsame Stunden verzichtet hat, für ihre Unterstützung, ihr Verständnis und ihre Geduld überaus dankbar. Zusammenfassung Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die aus den Defiziten starr verketteter Fließmontage- linien resultierende Forderung nach veränderungsfähigen Systemen für die zukünftige Automobil- montage. Als Ausprägungsform eines veränderungsfähigen Systems grenzt die fluide Montage, die im Kontext des Forschungscampus ARENA2036 erarbeitet wird und über eine spezifische Anzahl an Freiheitsgraden verfügt, den Untersuchungsbereich dieser Arbeit ab. Es zeigt sich, dass in dieser Umgebung die Gewährleistung der kurzfristigen Materialverfügbarkeit infolge dynamischer Materialflussstrukturen eine besondere Herausforderung darstellt. Aus diesem Grund beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit der übergeordneten Forschungsfrage, wie sich die Materialverfügbarkeit während des Betriebs eines fluiden Montagesystems sicherstellen lässt. Als konkreter Handlungsbedarf wird die Entwicklung und Untersuchung einer Methodik zur Über- prüfung und Sicherstellung der Materialverfügbarkeit in fluiden Montagesystemen identifiziert. Die entwickelte Methodik setzt sich aus vier aufeinanderfolgenden Prozessschritten zusammen. Hierbei handelt es sich um die Schritte Initialisierung, Zielsuche und Aufgabenableitung, Lösungs- suche sowie Lösungsauswahl. Die Methodik ist als Bestandteil des Materialbereitstellungssystems dem Aufgabenfeld der Logistik zugeordnet und trägt zur Koordination des Montage- und Ma- terialbereitstellungssystems bei, da sie an der Schnittstelle dieser beiden Systeme eingesetzt wird. Die simulationsbasierte Untersuchung der Methodik erfolgt am Beispiel einer Cockpit-Vormontage. Verschiedene Experimente werden durchgeführt, um die Funktionsweise der Methodik zu er- proben und den Einfluss verschiedener Größen auf die Materialverfügbarkeit zu analysieren. Wie die Simulationsergebnisse zeigen, gelingt es durch den Einsatz der Methodik, die Mate- rialverfügbarkeit in fluiden Montagesystemen während des laufenden Betriebs sicherzustellen. Hierbei hat sich insbesondere die Verwendung des Ansatzes zur logistik- und montageinduzierten Materialverfügbarkeit als förderlich erwiesen. Dadurch leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Ausgestaltung der Materialbereitstellung in fluiden Montagesystemen. V Abstract The starting point of this work is the need for systems with the ability to change for future automobile assembly that is a consequence of the deficits of rigidly linked assembly lines. As a form of a system with the ability to change, the fluid assembly system, which is being developed in the context of the research campus ARENA2036 and has a specific number of degrees of freedom, defines the scope of this work. It turns out that in this environment, ensuring short-term material availability is a particular challenge as a result of dynamic material flow structures. For this reason, the present work deals with the overarching research question of how material availability can be ensured during the operation of a fluid assembly system. The development and investigation of a methodology for checking and ensuring material avail- ability in fluid assembly systems has been identified as specific need for action. The developed methodology consists of four consecutive process steps: initialisation, objective search and task deduction, solution search and solution selection. The methodology is assigned to the field of logistics as part of the material supply system and contributes to the coordination of the assembly and material supply system, since it is used at the interface between these two systems. The simulation-based investigation of the methodology is carried out using the example of a cockpit pre-assembly. Various experiments are conducted to test the functionality of the methodology and to analyse the influence of different parameters on material availability. As the simulation results show, the methodology can be used to ensure material availability in fluid assembly systems during operations. In particular, the use of the approach for logistical- and assembly-induced material availability has proven to be beneficial. Thus, the work contributes to the design of material supply in fluid assembly systems. VII Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis XI Tabellenverzeichnis XIII Abkürzungsverzeichnis XV Formelzeichen XVII Formelverzeichnis XIX 1 Einleitung 1 1.1 Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Forschungscampus ARENA2036 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.3 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.4 Zielsetzung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.5 Abgrenzung des Untersuchungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.6 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2 Grundlagen der Materialbereitstellung in der Automobilmontage 7 2.1 Montage in der Automobilfabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1.1 Heutiger Stand der Automobilmontage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1.1.1 Produkt- und Montagestruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.1.1.2 Grundlagen und Defizite der Variantenfließmontage . . . . . . . 12 2.1.2 Merkmale einer zukünftigen Automobilmontage . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.1.2.1 Systemtheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.1.2.2 Veränderungsfähigkeit von Logistik- und Produktionssystemen . 17 2.1.2.3 Einordnung der fluiden Produktion als Ausprägungsform eines veränderungsfähigen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1.2.4 Konkretisierung eines fluiden Montagesystems . . . . . . . . . . 22 2.2 Materialbereitstellung in der Automobilmontage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.2.1 Einordnung der Materialbereitstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.2.2 Aufgabe und Parameter der Materialbereitstellung . . . . . . . . . . . . . 28 2.2.3 Verbrauchs- und bedarfsgesteuerte Materialbereitstellung . . . . . . . . . 30 2.2.4 Ablauf der Materialbereitstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.2.5 Zielsystem der Produktionslogistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2.6 Grundtypen der Materialbereitstellung in der Automobilmontage . . . . . 38 2.2.7 Materialverfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3 Stand der Forschung und des Wissens 43 3.1 Herausforderungen bei der Materialbereitstellung in frei verketteten Montagesys- temen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.2 Ausgestaltung der Materialbereitstellung in frei verketteten Montagesystemen . . 45 IX 3.2.1 Materialbereitstellung in der Matrix-Montage . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.2.2 Materialbereitstellung in der modularen Montage . . . . . . . . . . . . . . 49 3.2.3 Materialbereitstellung mit dem IFT-Produktionslogistikkonzept . . . . . . 50 3.2.4 Materialbereitstellung in der fluiden Montage . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.2.5 Weitere Ansätze zur Materialbereitstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.2.6 Fazit zur Ausgestaltung der Materialbereitstellung . . . . . . . . . . . . . 57 3.3 Unterstützung, Prüfung und Bewertung der Materialverfügbarkeit . . . . . . . . 59 3.3.1 Ansätze zur Unterstützung der Materialverfügbarkeit für die Montage . . 59 3.3.2 Materialverfügbarkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.3.3 Bewertung der Materialverfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.4 Fazit und Ableitung des Handlungsbedarfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4 Entwicklung einer Methodik zur Überprüfung und Sicherstellung der Mate- rialverfügbarkeit in fluiden Montagesystemen 77 4.1 Anforderungsspezifikation und Einordnung der Methodik . . . . . . . . . . . . . 77 4.2 Initialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.3 Zielsuche und Aufgabenableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.4 Lösungssuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.5 Lösungsauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5 Simulationsbasierte Untersuchung am Beispiel einer Cockpit-Vormontage 91 5.1 Grundlagen der Simulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 5.2 Auswahl und Beschreibung des Anwendungsfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 5.3 Durchführung der Simulationsstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5.3.1 Aufgabendefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5.3.2 Systemanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5.3.3 Modellformalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.3.4 Modellimplementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.3.5 Verifikation und Validierung des Simulationsmodells . . . . . . . . . . . . 112 5.3.6 Durchführung und Auswertung von Experimenten . . . . . . . . . . . . . 114 5.4 Zusammenfassender Erkenntnisgewinn und kritische Würdigung . . . . . . . . . . 129 6 Schlussbetrachtung 133 6.1 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6.2 Weiterer Forschungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Anhang XXI Literaturverzeichnis XXV X Abbildungsverzeichnis 2.1 Beispielhafte Montagelinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2 Produktstruktur in der Automobilindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.3 Beispielhafter Vorranggraph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.4 Klassifikation von Fließmontagelinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.5 Systembestandteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.6 Klassen der Veränderungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.7 Gegenüberstellung Flexibilität und Wandlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.8 Produktionssystemvergleich hinsichtlich Kapazität und Funktionalität . . . . . . 20 2.9 Struktur von CPPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.10 Beispielhafte Veränderung der Produktions- und Logistikstruktur im Zeitverlauf 23 2.11 Funktionelle Abgrenzung von Logistiksystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.12 Einordnung der Materialbereitstellung nach Zeithorizont und logistischem Funkti- onsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.13 Begriffsabgrenzung Materialbereitstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.14 Morphologie der Materialbereitstellungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.15 Vor- und Nachteile bedarfs- und verbrauchsgesteuerter Materialabrufe . . . . . . 32 2.16 Funktionen des bandnahen Supermarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.17 Beispielhaftes Werkerdreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.18 Grundtypen der Materialbereitstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.1 Übersicht Riegelkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.2 Detailansicht Riegelkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.3 Übersicht Einzel-FTF-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.4 Übersicht Warenkorb-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.5 Kybernetischer Regelkreis der adaptiven Materialbereitstellung . . . . . . . . . . 57 3.6 Beispielhafte Programmablaufpläne typischer Selbststeuerungsmethoden . . . . . 63 3.7 Verfügbarkeitsprüfungen im Kundenauftragsabwicklungsprozess . . . . . . . . . . 64 3.8 Interpretation des Bereitstellungsdiagramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.9 Beispielhafte Bereitstellungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.1 Aktivitäten Problemlösungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4.2 Logistik- und montageinduzierte Materialverfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.3 Übersicht Methodikablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.4 Übersicht Ablauflogik Zielsuche und Aufgabenableitung . . . . . . . . . . . . . . 82 4.5 Übersicht Ablauflogik Lösungssuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.6 Übersicht Ablauflogik Lösungsauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5.1 Vorgehensmodell bei der Simulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.2 Beispielhafte Darstellung eines Fahrzeugcockpits . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 5.3 Übersicht über die betrachteten Verbauumfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5.4 Vorranggraph der Cockpit-Vormontage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 XI 5.5 Beispielhafte Zuordnung von Funktionalitäten zu Prozessmodulen im Simulations- modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5.6 Beispielhafter Ausschnitt des implementierten Materialbereitstellungssystems . . 103 5.7 Beispielhafter Ausschnitt der implementierten Soll-Ist-Abweichungsanalyse im Simulationsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.8 Übersicht Simulationsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5.9 Übersicht implementierter Programmablauf der Methodik . . . . . . . . . . . . . 108 5.10 Implementierte Ablauflogik Montageprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.11 2D-Visualisierung der Cockpit-Vormontage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5.12 Beispielhafte Implementierung des Zustandsverhaltens von Material-Sets . . . . . 112 5.13 Übersicht Anzahl Montageaufträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 5.14 Verteilungsfunktionen zur Szenarienbildung während der Auftragskonfiguration . 116 5.15 Übersicht Simulationsergebnisse Referenz-Szenario . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5.16 Übersicht Simulationsergebnisse Experiment 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5.17 Übersicht Simulationsergebnisse Experiment 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 5.18 Übersicht Simulationsergebnisse Experiment 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5.19 Übersicht Simulationsergebnisse Experiment 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 XII Tabellenverzeichnis 1.1 Übersicht der untergeordneten Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2.1 Stärken und Schwächen der frei verketteten Montage . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.2 Bewertung und Gegenüberstellung der Produktionssysteme . . . . . . . . . . . . 21 2.3 Materialklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.1 Übersicht zu frei verketteten Ansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.2 Vor- und Nachteile unterschiedlicher Bereitstellorte . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.3 Zusammenfassende Übersicht zur Ausgestaltung der Materialbereitstellung . . . . 58 3.4 Ansätze zur Unterstützung der Materialverfügbarkeit für die Montage . . . . . . 59 5.1 Übersicht über variantenbildende Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5.2 Experimentübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 5.3 Übersicht Szenarienbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.4 Zuordnung der Verbauumfänge zu Prozessmodulen . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 XIII Abkürzungsverzeichnis ARENA2036 Active Research Environment for the Next generation of Automobiles 2036 AT Arbeitstag ATP Available-to-Promise CPPS Cyber-physisches Produktionssystem CPS Cyber-physische Systeme CTP Capable-to-Promise DLZ Durchlaufzeit DML Dedicated Manufacturing Line ERP Enterprise Ressource Planning FLMS Fluid Manufacturing System FMS Flexible Manufacturing System FTF Fahrerloses Transportfahrzeug FTS Fahrerloses Transportsystem GLT Großladungsträger IFT Institut für Fördertechnik und Logistik JIS Just-in-Sequence JIT Just-in-Time KLT Kleinladungsträger MES Manufacturing Execution System MMS Matrix Manufacturing System OEM Original Equipment Manufacturer RFA Reihenfolgenabweichung RMS Reconfigurable Manufacturing System VDI Verein Deutscher Ingenieure WBZ Wiederbeschaffungszeit WIP Work in Progress XV Formelzeichen Formelzeichen Einheit Beschreibung FVBehälter Stück Fassungsvermögen Behälter Ist-Positioni – Position des Auftrags i beim Verlassen der Montage KAZ Stück Anzahl Kanbans nb Stück Anzahl der Beladevorgänge ne Stück Anzahl der Entladevorgänge RFA – Durchschnittliche Reihenfolgenabweichung sa Meter Länge des Anfahrtswegs st Meter Länge des Transportwegs Soll-Positioni – Position des Auftrags i zum Zeitpunkt der Auftragsfreigabe tA Sekunden Gesamte Anfahrtszeit tb Sekunden Mittlere Dauer eines Beladevorgangs tB Sekunden Gesamte Beladezeit te Sekunden Mittlere Dauer eines Entladevorgangs tE Sekunden Gesamte Entladezeit tg,r Sekunden Greifzeit für physische Materialbewegungen in Abhängigkeit der Kommissionierauftragsposition tHMV Sekunden Zeit zur Herstellung der Materialverfügbarkeit tK Sekunden Gesamte Kommissionierzeit tl,r Sekunden Zeitanteil für die Bewegung des Kommissionierpersonals oder einer Ladeeinheit in Abhängigkeit der Kommissionierauftragsposition tt,r Sekunden Abhängig von der Anzahl an Kommissionierauftragspositionen anfallende Totzeit z. B. für Such- oder Zähltätigkeiten tT Sekunden Gesamte Transportzeit t0 Sekunden Unabhängig von der Anzahl an Kommissionierauftragspositionen anfallende Basiszeit etwa für das Empfangen von Auftragsdaten vt Meter / Sekunde Geschwindigkeit des Transportmittels WBZ Stunden Wiederbeschaffungszeit µh Stück Durchschnittlicher Materialbedarf pro Stunde XVII Formelverzeichnis Formel 2.1: Dimensionierung Kanban-Regelkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Formel 3.1: Materialverfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Formel 4.1: Logistikinduzierte Materialverfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Formel 4.2: Montageinduzierte Materialverfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Formel 4.3: Ermittlung Zeit zur Herstellung der Materialverfügbarkeit . . . . . . . . . . . 85 Formel 4.4: Ermittlung Anfahrtszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Formel 4.5: Ermittlung Kommissonierzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Formel 4.6: Ermittlung Beladezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Formel 4.7: Ermittlung Transportzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Formel 4.8: Ermittlung Entladezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Formel 5.1: Mittlere Reihenfolgenabweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 XIX 1 Einleitung 1.1 Ausgangssituation Die Automobilindustrie ist für den Wirtschaftsstandort Deutschland von großer Bedeutung. Die deutsche Automobilindustrie hat 2022 mit knapp 770.000 Beschäftigten [Sta23a, S. 31] einen Gesamtumsatz von über 500 Milliarden Euro erwirtschaftet [Sta23b, S. 5]. Die Logistik leistet durch die Bereitstellung der für die Herstellung eines Fahrzeugs erforderlichen Materialien einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg der Automobilbranche. Denn während der Montage eines Fahrzeugs werden in Abhängigkeit des Aggregationsgrads der Anlieferumfänge und des jeweiligen Fahrzeugtyps etwa 3.000 bis 6.000 Montagepositionen verbaut, die sich aus bis zu 20.000 Komponenten und Teilen zusammensetzen [Klu18, S. 469]. Aufgrund der gegenwärtigen Wertschöpfungstiefe in der Automobilindustrie, wird ein Großteil dieser Materialien von Zulie- ferern beschafft und beim Original Equipment Manufacturer (OEM) für die Fahrzeugmontage bereitgestellt. Somit leistet die logistische Materialbereitstellung durch die Sicherstellung der Materialverfügbarkeit einen wesentlichen Beitrag für einen reibungslosen Wertschöpfungsprozess und die termingerechte Fahrzeugauslieferung an den Kunden. Ungeachtet der Veränderungen, denen das Automobil als Produkt sowie die eingesetzten Pro- duktionstechnologien in den vergangenen Jahrzehnten unterworfen waren, basieren die Aufbau- und Ablaufstrukturen der Automobilmontage auch heute noch weitgehend auf den Grundsätzen von Henry Ford und Frederick Taylor. Sequenziell getaktete Fließmontagelinien werden einge- setzt, um Fahrzeuge in großer Stückzahl herzustellen [Rei10, S. 31 ff.]. Die Entwicklung des Toyota-Produktionssystems, eine fortschreitende Automatisierung oder der Einsatz des Konzepts der Lean Production haben dazu beigetragen, die Nachfrage nach Produkten mit einem hohen Individualisierungsgrad zu befriedigen und die damit einhergehende Produkt- und Modellvielfalt in kleiner Stückzahl wirtschaftlich herzustellen [Ohn09, S. 33 ff.]. Um auch zukünftig wettbewerbs- fähig zu sein, steht die Branche derzeit jedoch vor einem Umbruch, denn die Gestaltungsoptionen zur effizienten Weiterentwicklung der traditionellen Fließmontage scheinen begrenzt zu sein und die Abkehr von den bekannten Fertigungsprinzipien rückt zunehmend in den mittel- bis lang- fristigen Planungsfokus der Unternehmen [WPH20, S. 228]. Als Treiber für den Wandel werden unter anderem die Entwicklung alternativer Antriebs- und Mobilitätskonzepte, das Auftreten neuer Wettbewerber am Markt, die zunehmende Produktindividualisierung oder die Volatilität der globalen Handelspolitik genannt [Ver21a, S. 5 ff.]. Infolgedessen werden zunehmend auch für die Montage und Materialbereitstellung alternative Aufbau- und Ablaufstrukturen diskutiert, die etwa durch technologische Weiterentwicklungen, wie Cyber-physische Systeme (CPS) oder die Abkehr von der fest verketteten Fließmontage, ein höheres Maß an Veränderungsfähigkeit bieten, um den genannten Herausforderungen zu begegnen. Im Rahmen des Forschungscampus Active Research Environment for the Next generation of Automobiles 2036 (ARENA2036) werden unter anderem derartige Montage- und Logistikkonzepte erarbeitet und untersucht. In diesem Umfeld ist die vorliegende Arbeit angesiedelt. 1 1.2 Forschungscampus ARENA2036 Die ARENA2036 versteht sich als eine Plattform für innovative Mobilitäts- und Produktionslö- sungen der Zukunft, wobei sich die Jahreszahl 2036 auf das 150-jährige Bestehen des Automobils bezieht [WPH20, S. 221]. Ein wesentliches Merkmal der ARENA2036 ist die disziplinübergrei- fende Zusammenarbeit verschiedener Institutionen aus Wissenschaft und Wirtschaft. Zu den Partnern gehören neben der Universität Stuttgart unter anderem auch Unternehmen wie die Robert Bosch GmbH, KUKA AG, Daimler AG oder Institute der Fraunhofer-Gesellschaft. Um eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der Partner unter einem Dach zu ermöglichen, steht auf dem Campus der Universität Stuttgart eine ca. 10.000 Quadratmeter große Forschungsfabrik mit Büro- und Hallenflächen zur Verfügung [HA20, S. 1]. Eine im Kontext der ARENA2036 angesiedelte Förderinitiative setzt sich aus drei Förderphasen zusammen, deren Laufzeit jeweils fünf Jahre beträgt. Aufbauend auf den Ergebnissen der ersten Förderperiode, werden in der aktuell laufenden zweiten Förderphase die Verbundprojekte „Agiler InnovationsHub“, „Digitaler Fingerabdruck“, „FlexCAR“ sowie „Fluide Produktion“ durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt [DM19, S. 1; HA20, S. 3 f.]. Der Schwerpunkt des Projekts „Fluide Produktion“ liegt auf der Entwicklung und Umsetzung eines Produktionskonzepts, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht und welches überwiegend aus CPS besteht [HA20, S. 4]. Dieses Produktionskonzept wird im Allgemeinen als fluide Produktion bezeichnet, wobei bei der Betrachtung von Montageabschnitten auch von einem fluiden Montagesystem gesprochen wird. Angelehnt ist dieses Produktionskonzept an die Eigenschaften und das Verhalten eines Fluids. Wird diese Charakteristik auf ein Produktionskonzept übertragen, schließen sich die in der fluiden Produktion existierenden CPS auf Basis innerer bzw. äußerer Einflussfaktoren bedarfsorientiert zu Arbeitsstationen und Betriebsmitteln zusammen, wodurch eine kontinuierliche Anpassung an aktuelle Bedarfe ermöglicht wird [FD20, S. 147]. Infolgedessen verfügt ein fluides Montagesystem, wie ausführlich in Kapitel 2.1.2 beschrieben wird, über eine spezifische Anzahl an steuerungsseitigen Freiheitsgraden und ein hohes Maß an Veränderungsfähigkeit. Diese Eigenschaften haben unter anderem zur Folge, dass die Be- herrschung der logistischen Prozesse eine Herausforderung darstellt. Beispielsweise führt die zunehmende montageseitige Flexibilität zu einer geringeren logistischen Reaktionszeit für die Materialbereitstellung [WPH20, S. 231]. 1.3 Problemstellung Im Betrachtungsbereich der vorliegenden Arbeit existieren noch vielfältige Problemstellungen, die eine ausführliche wissenschaftliche Untersuchung benötigen. Beispielsweise beschreibt [Hof22, S. 162] die Steuerung und Koordination der Komponenten der Materialflusssysteme im Kontext einer veränderungsfähigen Automobilmontage als noch offenen Forschungsbedarf. Ein bislang ebenso weitgehend vernachlässigter Betrachtungsbereich stellt die Sicherstellung der Materialver- fügbarkeit dar. Eine Auseinandersetzung mit dieser Problemstellung ist aus mehreren Gründen 2 von Relevanz. Zunächst hat die Nichtverfügbarkeit von Materialien in einem fluiden Montages- system, ebenso wie auch bei traditionellen Fließmontagelinien, oftmals Produktivitätsverluste zur Folge. Gemäß [Boy+15, S. 107] werden in heutigen Automobilmontagelinien bei auftretenden Fehlmaterialien folgende Reaktionsmaßnahmen eingesetzt: • Wird das Fehlen der Materialien erkannt, bevor das Fahrzeug in die Endmontage einge- schleust wird, besteht die Möglichkeit, stattdessen ein anderes Fahrzeug ohne Fehlmaterial vorzuziehen und für den Montageprozess freizugeben. Dies hat allerdings eine Verwirbe- lung der ursprünglich geplanten Auftragssequenz zur Folge und führt aufgrund etwaiger Resequenzierungsprozesse für das Material zu logistischem Mehraufwand. • Wird das Fehlen eines Materials frühzeitig antizipiert, werden außer- und innerbetriebliche Express- oder Notfallbelieferungskonzepte eingesetzt, um die Materialverfügbarkeit am Verbauort herzustellen. • Eine weitere Handlungsmöglichkeit besteht darin, das fehlende Material zunächst aus- zulassen und das betroffene Fahrzeug wie vorgesehen weiter aufzubauen. Nachdem das fehlende Material wieder verfügbar ist, wird dieses nachträglich zeit- und kostenintensiv nachgerüstet. • Im Extremfall wird aufgrund der Nichtverfügbarkeit von Materialien die gesamte Montage- linie gestoppt, was zu hohen Folgekosten führt. Um die genannten Reaktionsmaßnahmen zu vermeiden und einen effizienten Montagebetrieb zu gewährleisten, ist die Sicherstellung der Materialverfügbarkeit sowohl in herkömmlichen Fließmontagelinien als auch in frei verketteten Montagesystemen, wie der fluiden Montage, von hoher Bedeutung. Darüber hinaus wird die Sicherstellung der Materialverfügbarkeit in der fluiden Montage unter anderem durch die Auflösung der montagebezogenen Perlenkette, den Verzicht auf Band und Takt, die Existenz steuerungsseitiger Freiheitsgrade sowie die Ad-hoc-Allokation von Ressourcen erschwert. Selbst nach der Auftragsfreigabe und dem Einschleusen der aufzubauenden Fahrzeuge in die Montage ist die Fahrzeugreihenfolge flexibel. Ferner steht der tatsächliche Montageort aufgrund der Ad-hoc-Entscheidungsfindung der Selbststeuerung und dem Vorhandensein redundanter Systembestandteile erst unmittelbar vor Beginn des Montageschrittes fest [Ran+23, S. 270], was kurzfristige Verschiebungen der Materialbedarfsorte zur Folge hat. Ebenso ist der tatsächliche Bedarfstermin für die Materialien kaum zu prognostizieren [Boc+15, S. 273]. Infolgedessen entsteht eine permanente Diskrepanz zwischen Materialangebot und -nachfrage. Folglich stellt die Sicherstellung der kurzfristigen Materialverfügbarkeit in einem fluiden Montagesystem eine große Herausforderung dar. 1.4 Zielsetzung der Arbeit Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, einen Beitrag zur Ausgestaltung der Materialbereitstellung in fluiden Montagesystemen zu leisten. Dabei steht insbesondere die Aufrechterhaltung der 3 Materialverfügbarkeit im Betrachtungsfokus. Um einen effizienten Betriebsablauf in der Montage zu gewährleisten, ist eine zuverlässige Sicherstellung der Materialverfügbarkeit unabdingbar. Die zentrale Forschungsfrage dieser Arbeit lautet daher: Wie lässt sich die Materialverfügbarkeit während des Betriebs eines fluiden Montagesystems sicherstellen? Um diese übergeordnete Forschungsfrage zu beantworten, werden im weiteren Verlauf der Abhandlung noch weitere Fragen adressiert, die der zentralen Forschungsfrage untergeordnet sind und zu deren Beantwortung beitragen. Tabelle 1.1 gibt einen Überblick über die untergeordneten Forschungsfragen. Kapitel Forschungsfragen Kapitel 3 – Stand der Forschung und des Wissens • Existiert Forschungsbedarf hinsichtlich der Materialverfügbarkeit in frei verketteten Montagesystemen? Kapitel 5.3.6 – Durchführung und Auswertung von Experimenten • Welchen Einfluss hat die Rekonfigurationszeit der Prozessmodule auf die Materialverfügbarkeit? • Welchen Einfluss hat der Level des Work in Progress (WIP) auf die Materialverfügbarkeit? • Welchen Einfluss haben Störungen der Prozessmodule auf die Materialverfügbarkeit? • Welchen Einfluss hat die interne Wiederbeschaffungszeit (WBZ) auf die Materialverfügbarkeit? Tabelle 1.1: Übersicht der untergeordneten Forschungsfragen, eigene Darstellung Die erste untergeordnete Forschungsfrage bezieht sich auf den Stand der Forschung und des Wissens. Hierzu wird in Kapitel 3 einerseits auf die Herausforderungen und die derzeitige Ausge- staltung der Materialbereitstellung in frei verketteten Montagesystemen eingegangen. Andererseits werden verfügbare Ansätze zur Unterstützung, Prüfung und Bewertung der Materialverfügbarkeit beleuchtet. Mit diesen Ausführungen gelingt es, ausgehend vom Stand der Forschung und des Wissens, den Handlungsbedarf für den weiteren Verlauf der Arbeit abzuleiten. Den Schwerpunkt der Arbeit bildet die Entwicklung und simulationsbasierte Untersuchung einer Methodik zur Überprüfung und Sicherstellung der Materialverfügbarkeit im Umfeld eines fluiden Montagesystems. Weitere Forschungsfragen werden in Kapitel 5.3.6 formuliert, um die Durchführung und Auswertung der Simulationsexperimente zu strukturieren, die im Rahmen der Simulationsstudie durchgeführt werden. Die in diesem Zusammenhang beleuchteten Forschungs- fragen dienen vorrangig dazu, den Einfluss verschiedener Parameter auf die Materialverfügbarkeit zu untersuchen. 4 1.5 Abgrenzung des Untersuchungsbereichs Gemäß [Ver11, S. 3] ist eine Fabrik der „Ort, an dem Wertschöpfung durch arbeitsteilige Produktion industrieller Güter unter Einsatz von Produktionsfaktoren stattfindet.“ Bei der Betrachtung eines Fabriklebenszyklus werden im Allgemeinen zwei aufeinanderfolgende Zeiträume unterschieden, nämlich der Zeitraum für die Planung, Realisierung und Inbetriebnahme der Fabrik sowie der Zeitraum für die Fabriknutzung [Gru21, S. 21]. Letzterer Zeitraum begrenzt den Betrachtungsbereich der vorliegenden Arbeit. Charakteristisch für den Fabrikbetrieb, der auf die An- und Hochlaufphase folgt, ist die Herstellung verkaufsfähiger Produkte [Ver11, S. 8 ff.]. Die Produktion wird im Allgemeinen in Fertigung und Montage untergliedert [WW19, S. 41]. Die Aufgabe der Montage, die im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen steht, ist das Zusammenbau- en von Teilen, die an verschiedenen Orten und Zeitpunkten mit unterschiedlichen Technologien und Verfahren hergestellt wurden, um ein Produkt höherer Komplexität mit vorbestimmter Funktion zu erzeugen [RS96, S. 1236]. Aus einer zeitlichen Perspektive betrachtet, liegt die Montage im Auftragserfüllungsprozess hinter der Konstruktion, Beschaffung, Arbeitsvorbereitung und Fertigung [Stü12, S. 3; WW19, S. 25]. Aufgrund dieser Stellung im Herstellungsprozess beschreibt [RS96, S. 1240] die „Montage als Sammelbecken aller organisatorischen, terminlichen und qualitativen Fehler der Produktionskette“. Dies trifft in weiten Teilen auch auf die Auto- mobilmontage zu, was die Sicherstellung der Materialverfügbarkeit im Rahmen der logistischen Materialbereitstellung erschwert. Verfügbarkeitsbetrachtungen werden in verschiedenen Unternehmensbereichen (z. B. Vertrieb, Be- schaffung etc.) eingesetzt. Die Materialverfügbarkeit, die im Betrachtungsfokus dieser Arbeit steht, lässt sich durch folgende Charakteristik abgrenzen. Die Überprüfung der Materialverfügbarkeit wird nach der Freigabe des Montageauftrags und vor der Fertigstellung des Auftrags ausgeführt und konzentriert sich auf die Sicherstellung der Materialverfügbarkeit am Verbauort. Im Zentrum der Verfügbarkeitsbetrachtung stehen die Materialien, die mittels der Materialbereitstellungs- prozesse an den Verbauorten bereitgestellt werden. Betrachtet wird die Materialverfügbarkeit auf der Detaillierungsebene einzelner Arbeitsvorgänge, die in dieser Arbeit zusammengefasst auch als Verbauumfänge bezeichnet werden. Diese Art der Materialverfügbarkeit wird auch als kurzfristige Materialverfügbarkeit bezeichnet, da aufgrund des definierten Betrachtungsbereichs oftmals nur eine kurze Zeitspanne zur Herstellung der Materialverfügbarkeit verbleibt. Thematisch lässt sich die Arbeit neben der bereits vorgestellten ARENA2036 auch in den Kontext der wissenschaftlichen Forschungstätigkeiten einbetten, die am IFT der Universität Stuttgart durchgeführt werden. Die Inhalte dieser Arbeit stellen eine Erweiterung des IFT- Produktionslogistikkonzepts dar und bauen auf den Vorarbeiten von [Pop18] und [Hof22] auf, die gleichzeitig als Rahmen für diese Arbeit dienen. Die Abhandlungen von [Ker21] und [Foi23] sind Beispiele für weitere Forschungsarbeiten, die im Umfeld der Universität Stuttgart entstanden sind und einen Bezug zur vorliegenden Arbeit aufweisen. 5 1.6 Aufbau der Arbeit In Kapitel 2 werden die Grundlagen der Materialbereitstellung in der Automobilmontage beschrie- ben. Zu Beginn wird auf den heutigen Stand der Montage in der Automobilfabrik eingegangen. Darauf aufbauend werden die für diese Arbeit erforderlichen Merkmale einer zukünftigen Au- tomobilmontage erläutert. In diesem Kontext werden auch die Eigenschaften eines fluiden Montagesystems als eine Ausprägungsform eines veränderungsfähigen Systems vorgestellt. Die Betrachtung der Materialbereitstellung in der Automobilmontage rundet das Grundlagenkapitel ab. In Kapitel 3 wird der Stand der Forschung und des Wissens diskutiert. Im ersten Schritt erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, die bei der Materialbereitstellung in frei verketteten Montagesystemen auftreten. Im nächsten Schritt wird die Ausgestaltung der Materialbereitstellung in frei verketteten Montagesystemen anhand verschiedener Cluster beleuchtet. Die nächsten Unterkapitel beschäftigen sich mit Ansätzen zur Unterstützung, Prüfung und Bewertung der Materialverfügbarkeit. Abschließend erfolgt ein Fazit zum Stand der Forschung und des Wissens sowie die Ableitung des Handlungsbedarfs für den weiteren Verlauf der Arbeit. Kapitel 4 konzentriert sich auf die Entwicklung einer Methodik zur Überprüfung und Sicherstel- lung der Materialverfügbarkeit in fluiden Montagesystemen. Aufbauend darauf findet in Kapitel 5 die simulationsbasierte Untersuchung der Methodik am Beispiel einer Cockpit-Vormontage statt. Der Kapitelaufbau orientiert sich an der Vorgehensweise zur Durchführung einer Simulations- studie. In diesem Zusammenhang wird unter anderem der Aufbau und die Funktionsweise des Simulationsmodells beschrieben sowie Experimente durchgeführt und ausgewertet. Abschließend wird der Erkenntnisgewinn zusammengefasst und eine kritische Würdigung vorgenommen. In Kapitel 6 findet eine Schlussbetrachtung statt, wobei die inhaltlichen Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst werden und ein Ausblick auf weitere Forschungsbedarfe gegeben wird. 6 2 Grundlagen der Materialbereitstellung in der Automobilmontage 2.1 Montage in der Automobilfabrik 2.1.1 Heutiger Stand der Automobilmontage Eine Automobilfabrik wird in die Abschnitte Presswerk, Karosseriebau, Lackiererei und Endmon- tage untergliedert [Ihm06, S. 10 f.], wobei die drei letzteren auch als Gewerke bezeichnet werden [Sil08, S. 7]. Die einzelnen Gewerke sind meist durch Puffer voneinander entkoppelt, um etwa Kapazitäts- oder Taktzeitunterschiede auszugleichen [Wem06, S. 18 f.]. Im weiteren Verlauf der Arbeit steht die Endmontage im Betrachtungsmittelpunkt. Dort erfolgt der finale Fahrzeugauf- bau, nachdem die in der Lackiererei stattfindenden Prozesse der Oberflächenbehandlung an den Fahrzeugkarossen abgeschlossen sind [Ihm06, S. 10 f.]. Abbildung 2.1: Beispielhafte Montagelinie in Anlehnung an [Ros08, S. 19] In Abbildung 2.1 ist eine exemplarische Automobilmontage dargestellt. Auf der Hauptlinie findet die primäre Montage des Endprodukts statt, während in den Modulmontageabschnitten zunächst spezifische Fahrzeugmodule (z. B. Cockpits) vormontiert und anschließend der Hauptlinie zugeführt werden [Ros08, S. 19]. Die Modulmontage, welche in Teilen auch an externe Standorte ausgelagert ist, wird auch als Vormontage bezeichnet [Her12, S. 216; Wei17, S. 14]. Auf der Hauptmontagelinie wird das Fahrzeug zunächst auf die für den Inneneinbau erforderli- chen Montageumfänge vorbereitet, indem beispielsweise die Türen demontiert werden [Ihm06, S. 343]. Im Anschluss daran findet unter anderem die Kabelsatz- und Cockpitmontage statt. Als „Hochzeit“ wird im Rahmen der Fahrwerkmontage das Zusammenführen von Karosserie und Triebsatz bezeichnet [Klu18, S. 471]. Anschließend findet der weitere Innen- und Außenaufbau des Fahrzeugs statt. Beispielsweise werden neben den Rädern auch wieder die Türen an das Fahrzeug angebracht, die zwischenzeitlich in einer separierten Vormontage komplettiert wurden. Nach der Finalisierung aller Montageumfänge werden die für die Fahrzeugfertigstellung notwendigen Prüf- 7 und Kontrollprozesse durchgeführt [Ros08, S. 19]. Nach Abschluss der Endkontrolle gehen die Fahrzeuge in den Versand und werden an den Kunden ausgeliefert [Fri09, S. 27]. Die Montage ist oftmals der letzte unmittelbare Wertschöpfungsschritt vor der Produktausliefe- rung an den Kunden [Wie14, S. 9]. Häufig findet hier die kundenspezifische Produktindividuali- sierung statt, weswegen die Montage im Wertschöpfungsprozess einen besonderen Stellenwert einnimmt [Sch11, S. 1]. Durch die alternative Zusammenstellung eines Produktes entstehen verschiedene Varianten [DIN06, S. 131]. Während zu Beginn der automobilen Massenproduktion Anfang des 20. Jahrhunderts überwiegend homogene Fahrzeugkonfigurationen hergestellt wurden, nahm im Laufe der Zeit die Nachfrage nach differenzierteren Produkten zu. Als Gründe für diese Entwicklung lassen sich neben der bereits angesprochenen Produktindividualisierung auch die Entwicklung neuer Technologien oder der intensive Wettbewerb auf dem Automobilmarkt nennen, wodurch die Hersteller bei- spielsweise dazu tendieren, neue Marktsegmente zu erschließen oder innovative Fahrzeugmodelle und -konzepte anzubieten. Diese Entwicklungen haben unter anderem eine höhere Produkt- und Montagekomplexität zur Folge. [Klu18, S. 45 ff.] 2.1.1.1 Produkt- und Montagestruktur Bevor im weiteren Verlauf des Kapitels auf die Produkt- und Montagestruktur eingegangen wird, ist es zunächst erforderlich, ausgewählte Grundlagen zum Kundenauftragsprozess und der Planung des Fahrzeugprogramms in den Betrachtungsmittelpunkt zu rücken. Denn Kundenaufträge stellen eine wichtige Größe zur Erstellung des Produktionsprogramms dar. Durch die Planung des Produktionsprogramms wird festgelegt, welche Arten und Mengen eines Produkts innerhalb eines Planungszeitraums hergestellt werden [Zäp01, S. 79]. Der Kundenauftragsprozess beginnt in der Automobilindustrie mit der kundenseitigen Auftragsge- nerierung sowie der Auftragsannahme durch den Hersteller und endet mit der Fahrzeugauslieferung und -übergabe an den Endkunden [Her05, S. 26]. Durch die Fahrzeugkonfiguration legt der Kunde die zu verbauenden Varianten auf unterschiedlichen Ebenen innerhalb der Produktstruktur fest [Küb17, S. 16 f.]. Welche individuellen Konfigurationsmöglichkeiten dem Kunden im Rahmen des Kundenauftragsprozesses zur Verfügung stehen, unterscheidet sich je nach Fahrzeughersteller. Allgemein wird zwischen Premiumherstellern, die eine große Anzahl an Konfigurationsmöglich- keiten anbieten, und Volumenherstellern unterschieden, bei denen meist eine geringere Anzahl an Konfigurationsmöglichkeiten zur Verfügung steht [VSS07, S. 68]. Die Geschäftsmodelle der Premiumhersteller basieren oftmals auf dem Build-to-Order-Prinzip [Ivi16, S. 38]. Häufig wird der Build-to-Order-Ansatz, bei dem die Planung und Herstellung der Fahrzeuge auf Basis konkreter Kundenaufträge erfolgt, mit dem Build-to-Forecast-Prinzip kombiniert eingesetzt, bei dem die Fahrzeugplanung und -herstellung auf Absatzprognosen basiert [Klu18, S. 405 ff.]. Das eingesetzte Mischverhältnis der beiden Ansätze ist unter anderem abhängig vom betrachteten Zielmarkt [HP04, S. 11 ff.]. 8 Die Planung des Fahrzeugprogramms erfolgt in einem mehrstufigen Prozess, bei dem unter- schiedliche Detaillierungsgrade und Planungshorizonte durchlaufen werden. Üblicherweise wird zwischen der strategischen, taktischen und operativen Programmplanung unterschieden. Wäh- rend die strategische Planung durch eine langfristige und stark aggregierte Perspektive von mehreren Jahren gekennzeichnet ist, bildet die taktische Planung des Fahrzeugprogramms mit einem Zeithorizont von mehreren Monaten unter anderem die Grundlage für die Planung der Materialbedarfe. Im Rahmen der kurzfristig orientierten operativen Planung wird das Produk- tionsprogramm weiter präzisiert, sodass als Ergebnis ein Tagesproduktionsprogramm vorliegt, welches die Produktionsaufträge eines Tages umfasst. [Klu18, S. 417 ff.] Folglich ist für die Erstellung des Fahrzeugprogramms die Produkt- und Montagestruktur von Relevanz. Da die Produktstruktur die Grundstruktur der Montage bestimmt und sich der Ablauf der Montage aus der Produktstruktur ergibt [Wes06, S. 162], steht die Struktur des Produktes und die Montagestruktur in enger Beziehung zueinander. Die Produktstruktur beschreibt, wie sich ein Produkt aus seinen verschiedenen Teilelementen zusammensetzt und wie diese zueinander in Beziehung stehen [Eve89, S. 145]. In Abbildung 2.2 ist exemplarisch eine mehrgliedrige Produktstruktur aus der Automobilindustrie dargestellt. ModellpaletteProduktportfolio Produktsegment Produkte Komponenten Baugruppen Unterbaugruppen Einzelteile Modell/Derivat A Modell/Derivat B Modell/Derivat n Baureihe nBaureihe A Karosserie Aggregat Fahrweg Motor Getriebe Elektronik Kurbelwelle Pleuel Lager Nockenwelle KurbelgehäuseZylinderkopf Abbildung 2.2: Produktstruktur in der Automobilindustrie in Anlehnung an [Löf11, S. 13] Auf der Ebene des Produktportfolios ist die gesamte Modellpalette angesiedelt. Auf der darunter angeordneten Ebene der Produktsegmente befinden sich die verschiedenen Baureihen. Diese werden auf der Produktebene weiter in Modelle und Derivate untergliedert. In der Automobil- industrie ist die Abgrenzung zwischen Produkt und Produktvariante oftmals nicht eindeutig. In Anlehnung an [HB08, S. 119 f.] stellen in etwa die C-Klasse und E-Klasse Modelle von Mercedes-Benz dar, die wiederum in unterschiedliche Derivate (z. B. Kombi oder Limousine) untergliedert werden. Ein Modell wird in dieser Arbeit als Produkt bezeichnet. Ein Derivat 9 stellt eine Produktvariante dar [Jan12, S. 17]. Unterhalb der Produktebene erfolgt eine weitere Untergliederung der Produktstruktur bis hin zu den Einzelteilen. Die durch die Individualisierungsmöglichkeiten entstehende Variantenvielfalt beeinflusst die Logistik- und Montageprozesse. Varianten sind Abweichungen von einem Standard, die in Be- zug auf Zeit, Menge und Art auftreten. Bei der Mengenvarianz divergieren die herzustellenden Stückzahlen in einem Zeitraum, wohingegen bei der zeitlichen Varianz ein Produkt nicht regel- mäßig hergestellt wird (z. B. temporär verfügbare Produktausführungen). Die Variantenvielfalt beschreibt die Artungleichheit einzelner Produktausführungen. Die Artvarianz wird wiederum in Produktvarianten und Produktionsvarianten untergliedert. Produktionsvarianten beanspruchen unterschiedliche Unternehmensfunktionen und -ressourcen, beispielsweise durch die Nutzung alternativer Produktionsprozesse. Die Produktvarianz beschreibt im Wesentlichen Unterschiede in der Produktstruktur. [Sch89, S. 10 und 42 f.] Aus Sicht der Montage hat insbesondere die Produktionsvarianz einen hohen Stellenwert, da die Inanspruchnahme unterschiedlicher Montageprozesse oder Ressourcen oftmals heterogene Bearbei- tungszeiten der Varianten zur Folge haben. Dahingegen beeinflusst die Produktvarianz lediglich dann die Montage, wenn sie auch eine Produktionsvarianz verursacht. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Produktvariante infolge einer höheren Ausstattungskomplexität zusätzliche Montageschritte in Anspruch nimmt. Als Beispiel für Produktvarianz ohne Einfluss auf die Montage nennt [Prö15] Varianten, die in unterschiedlichen Farbausprägungen vorliegen, da diese in den meisten Fällen keine unterschiedlichen Montagezeiten zur Folge haben. Im Unterschied hierzu führen die genannten Produktvarianten aus Sicht der Logistik jedoch zu einem höheren Koordinationsaufwand. [Prö15, S. 11] Die Produkt- und Produktionsstruktur sind eng miteinander verflochten. Die Produktstruktur definiert Anforderungen an die Produktion in Form von Technologien und Kapazitäten, während die Produktionsstruktur die zur Produktherstellung benötigten Ressourcen zur Verfügung stellt [LWU11, S. 37 ff.]. Aus diesen Ausführungen wird die wechselseitige Beziehung zwischen Produkt, Prozess und Ressourcen deutlich, denn je mehr Ressourcen- und Prozessvarianten zur Herstellung der Produktvarianten erforderlich sind, desto größer ist die innere Vielfalt [Wey10, S. 24 ff.]. In der Automobilindustrie wird ein möglichst später Zeitpunkt für die Variantenbildung und Auftragszuordnung anvisiert, um die durch die hohe Variantenanzahl ausgelöste Komplexität im Herstellungsprozess und der Materialflussteuerung zu reduzieren. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich der sogenannte Kundenentkopplungspunkt, welcher die kundenauftragsneutrale und -spezifische Herstellung voneinander abgrenzt, vom Karosseriebau in die Montage verlagert. Dadurch steigt die Variantenbildung in der Montage stark an. [Klu18, S. 59 ff.] Im Rahmen der Arbeitsvorbereitung erfolgt die Erstellung des Arbeitsplans, in welchem der Herstellungsprozess eines Produktes beschrieben ist. Darüber hinaus enthält der Arbeitsplan neben einer Auflistung der verschiedenen Arbeitsvorgänge und deren Durchführungsreihenfolge unter anderem Informationen zu Arbeitsplätzen, benötigten Betriebsmitteln und Materialien sowie Vorgabezeiten für jeden Montagevorgang. [Eve02, S. 23 ff.; Wes06, S. 155 ff.; WW19, S. 257] 10 Die Montage eines Produktes lässt sich in einzelne Teilaufgaben untergliedern. Ein Montage- vorgang ist eine nicht weiter zerlegbare Montagetätigkeit [Sch99, S. 4]. Bei der Erstellung des Montageplans sind Fügefolgen zu beachten [Wes06, S. 162]. Fügefolgen spiegeln die physischen Abhängigkeiten der Teile zueinander wider, d. h. in welcher Reihenfolge die Bauteile zu verbauen sind, die sich aus dem Produktaufbau ableiten lassen [HL12, S. 368 f.]. Neben der Produktrei- henfolge ist in der Automobilindustrie auch eine Prozessreihenfolge zu berücksichtigen. Bevor beispielsweise ein Fahrzeug mit Betriebsstoffen (z. B. Motoröl und Kühlflüssigkeit) befüllt wird, werden üblicherweise alle Montagetätigkeiten durchgeführt, die ein Kippen oder Schwenken des Fahrzeugs erfordern. Die Montageplanung beginnt meist mit einer Analyse der Stücklisten, denn sie beinhalten die Produktstruktur, welche wiederum die Grundstruktur der Montage bestimmt [Wes06, S. 162]. Folglich werden auf Basis der Produktstruktur Stücklisten abgeleitet [Löf11, S. 14], welche bei variantenreichen Produkten auch als Variantenstücklisten bezeichnet werden [OO18, S. 123 f.]. Gemäß [DIN21, S. 10] ist eine Stückliste eine „Darstellung der Bestandteile in einer Produktstruk- tur mit der Möglichkeit, den Grad an Zerlegung an die entsprechende Anforderung anzupassen“. Stücklisten stellen mitunter auch wichtige Informationen für die Ableitung von Materialbedarfen zur Verfügung [Eve02, S. 21 ff.]. Vorliegende Kundenbestellungen werden in Materialstücklisten transformiert, die alle Materialien beinhalten, welche für die Herstellung des Fahrzeugs benötigt werden [HP04, S. 27]. Mit Hilfe eines Vorranggraphen kann die Struktur eines Montageprozesses dokumentiert und visualisiert werden [Pet05, S. 15]. Ein Vorranggraph ist eine netzplanorientierte Darstellung von Montageaufgaben, bei der die Teilaufgaben als Knoten und die zugrundeliegenden Abhängig- keiten mittels Verbindungslinien zwischen den Knoten übersichtlich abgebildet werden [BRE93, S. 261]. Ein Vorranggraph enthält alle zur Herstellung eines Produktes gehörenden Tätigkeiten in einer logisch-zeitlichen Ablaufstruktur [Bul95, S. 94]. Abbildung 2.3 zeigt einen beispielhaften Vorranggraph. Ein wichtiger Aspekt für die weitere Konkretisierung der Automobilmontage ist die Montage- organisationsform, von der vielfältige Ausprägungen und Beschreibungen vorliegen. Für eine ausführliche Systematisierung von Montageorganisationsformen sei an dieser Stelle auf [Pet05] verwiesen. Von zentraler Bedeutung für die Automobilindustrie ist die Variantenfließmontage, deren Grundlagen und Defizite im nächsten Kapitel beschrieben werden. a b c e d f g h j i k l Abbildung 2.3: Beispielhafter Vorranggraph in Anlehnung an [Wei17, S. 60] 11 2.1.1.2 Grundlagen und Defizite der Variantenfließmontage Die Variantenfließmontage ist eine spezifische Ausprägungsform der Fließmontage. Diese hat ihren Ursprung in der Automobilindustrie und hat sich im Laufe der Zeit insbesondere bei der Montage von Serien- und Massenprodukten etabliert [Fel14, S. 10 f.; Pet05, S. 120 ff.]. Die Fließmontage, welche umgangssprachlich auch als Montagelinie bezeichnet wird, inkludiert als übergeordneter Begriff noch weitere Montageorganisationsformen, wie beispielsweise die Reihen- und Taktstraßenmontage [Ihm06, S. 335 ff.]. In Abbildung 2.4 ist eine in der Literatur häufig vorzufindende Klassifikation von Fließmontageli- nien dargestellt, wobei sich die drei folgenden Fälle unterscheiden lassen [Sch99, S. 7 f.; Boy05, S. 10 f.; Jan12, S. 19; Prö15, S. 12 f.]: • Einprodukt-Fließmontage (engl.: Single-Model-Line): Montage eines homogenen Pro- dukts in großer Stückzahl. In den Montagestationen werden bei jedem Montageobjekt die identischen Montagevorgänge ausgeführt, sodass keine Umstellungen erforderlich sind. • Serienweise Mehrprodukt-Fließmontage (engl.: Multi-Model-Line): Montage hete- rogener Produkte, die bei einem Produktwechsel Rüstvorgänge erfordern. Um eine hohe Systemeffizienz zu erreichen, werden die Produkte in Losen gebündelt. • Variantenfließmontage (engl.: Mixed-Model-Line): Montage heterogener Produkte in unterschiedlicher Reihenfolge ohne wesentliche Umstellungsvorgänge und Zeitverluste. Produkte (Modelle) Variantenfließmontage Serienweise Mehrprodukt-Fließmontage Einprodukt-Fließmontage rüsten Legende: Abbildung 2.4: Klassifikation von Fließmontagelinien in Anlehnung an [Sch99, S. 7; Boy05, S. 11; Prö15, S. 12] In der Praxis ist allerdings häufig nicht eindeutig festzustellen, welche der genannten Aus- prägungsformen vorliegt. Ein Grund hierfür liegt in der unterschiedlichen Ausgestaltung der Automobilwerke. Beispielsweise werden in Japan im Durchschnitt 3,8 Modelle auf einer Montage- linie hergestellt, wohingegen in Deutschland durchschnittlich lediglich 1,6 Modelle auf einer Linie produziert werden [SA15, S. 263]. Tatsächlich führt die Heterogenität der Produkte untereinander bereits dazu, dass teilweise schon von einer Variantenfließmontage gesprochen wird, wenn nur eine Modellreihe mit mehreren Derivaten auf einer Linie hergestellt wird [Hof22, S. 5 f.]. 12 Basierend auf dem Transferprinzip des Montageobjekts lässt sich die Fließmontage weiter unter- gliedern. Bei der kontinuierlichen Fließmontage wird das Montageobjekt während des Montage- vorgangs fortlaufend bewegt [SH86, S. 599]. Bei der intermittierenden Fließmontage erfolgt die Bewegung des Montageobjekts synchron getaktet, d. h. die Durchführung der Montagetätigkeiten erfolgt an ruhenden Objekten, welche nach Ablauf einer definierten Zeitspanne einheitlich und in regelmäßigen Zeitabständen zur nächsten Station weiterbewegt werden [BH21, S. 34 f.]. Die Taktung bestimmt somit den Rhythmus des Produktionsprozesses [Ver19b, S. 6]. Nach Ablauf der Taktzeit wird das sich im Aufbau befindliche Produkt an die nächste Station übergeben [Boy05, S. 9]. Dadurch kann zwischen den Montagestationen weitgehend auf Puffer verzichtet werden, die in anderen Organisationsformen eingesetzt werden, um den uneinheitlichen Bewegungsrhythmus der Montageobjekte auszugleichen [Ihm06, S. 244 und 335]. Charakteristisch für die Montageabläufe in gegenwärtigen Automobilfabriken sind somit räumlich und zeitlich starr verkettete Montagestationen [Göp+18, S. 151]. Gemäß [Sch+17a] ist durch die räumliche Verkettung die Reihenfolge der Montagestationen vorgegeben und einzelne Stationen können nicht übersprungen oder nachträglich ergänzt werden. Ferner wird die feste zeitliche Abhängigkeit zwischen den Stationen infolge einer gemeinsamen Taktzeit als zeitlich starre Verkettung bezeichnet. [Sch+17a, S. 343] [Prö15] hat in seiner Arbeit neben den Schwachstellen auch die Vorzüge der Variantenfließmontage zusammengetragen, zu denen u. a. eine kurze Durchlaufzeit (DLZ), planbare Stückzahlen sowie eine hohe Produktivität zählen [Prö15, S. 13]. Zu den Defiziten räumlich und zeitlich starr verketteter Montagelinien zählen gemäß [Sch+17a, S. 343 ff.] folgende Punkte: • Integration neuer Prozesse und Änderung der Prozessreihenfolge: Die Integration neuer Prozesse aufgrund neuer Produkte ist in starr verketteten Montagesystemen meist mit großem Anpassungsaufwand verbunden, da es häufig an freien und nutzbaren Flächen zwischen den existierenden Montagestationen mangelt. Die starre Verkettung der Stationen hat zur Folge, dass Änderungen in der Prozessreihenfolge mit hohem Aufwand verbunden sind. • Auslastung und Taktzeitspreizung: Taktzeitspreizungen führen bei variantenreichen Produkten zu unterschiedlich ausgelasteten Montagestationen, was Effizienzverluste zur Folge hat. • Auslastung von Sonderprozessen: Prozesse, die lediglich von spezifischen Produkt- varianten beansprucht werden, können unter Umständen innerhalb einer Anlage nicht voll ausgelastet werden. Zusätzliche Investitionen fallen an, wenn diese Prozesse aufgrund aufbau- und ablauforganisatorischer Gegebenheiten mehrfach in Anlagen zu integrieren sind. • Anpassungsaufwand und Betriebsstillstand bei Kapazitätserweiterungen: Wäh- rend des laufenden Betriebs sind bei starr verketteten Montagelinien oftmals keine umfas- senden Anpassungen durchführbar. Daraus resultieren Betriebsstillstände und zusätzliche Kosten bei der Umsetzung entsprechender Maßnahmen. Ebenso erfordern Kapazitätsanpas- sungen, beispielsweise bei der Integration neuer Prozesse, Unterbrechungen der Produktion. 13 • Flächenvorhalt, Stationsintegration und eingeschränkte Investitionsabstufung: Montagelinien werden gegenwärtig infolge ihrer langen Amortisationsdauer für einen lang- fristigen Zeithorizont geplant und ausgelegt. Aufgrund dessen wird in starr verketteten Montagelinien an definierten Stellen bereits frühzeitig Platz vorgehalten, sodass bei etwaigen Kapazitätserweiterungen eine Verschiebung von Stationen vermieden wird. Das Vorhal- ten freier Flächen hat etwa zur Folge, dass bereits in der ersten Aufbaustufe zusätzliche Investitionen in Transportsysteme zur Überbrückung von Freiflächen erforderlich sind. • Fixpunktverschiebung: Komplexe Produkte erfordern teilweise ortsfeste Montagesta- tionen oder basieren auf Montageschritten, deren Reihenfolge aufgrund direkter zeitlicher oder technologischer Abhängigkeiten nicht veränderbar ist. Derartige Fixpunkte stellen bei der Skalierung starr verketteter Anlagen Veränderungshemmnisse dar. Aus diesen Defiziten resultiert die Forderung nach neuen Konzepten für die zukünftige Automo- bilmontage. 2.1.2 Merkmale einer zukünftigen Automobilmontage Anforderungen, die an eine zukünftige Ausgestaltung der Automobilmontage gestellt werden, um die genannten Nachteile zu umgehen, werden derzeit vielfach diskutiert. Diesbezüglich formuliert beispielsweise [Ker21, S. 211 ff.] die folgenden acht Merkmale für die zukünftige Automobilmontage in Bezug auf ein modulares Montagesystem für die variantenreiche Serienmontage: 1. Ohne Band: Produkte nehmen lediglich die Stationen in Anspruch, die für die jeweilige Produktvariante erforderlich sind. Da nicht benötigte Stationen ausgelassen werden, entsteht eine variable Abfolge der Stationen. 2. Ohne Takt: Die Zeitdauer, wie lange ein Produkt in einer Station verweilt, richtet sich nach der variantenspezifischen Bearbeitungszeit. Somit basiert die Verweildauer eines Produktes in einer Station nicht auf einer einheitlichen Taktzeit. 3. Selbststeuerung der Aufträge: Die Ad-hoc-Stationswahl der Aufträge erfolgt mittels Selbststeuerung unter Berücksichtigung des aktuellen Systemzustands, des Aufbaustatus des Produkts und technischer Verbaurestriktionen. Bei der Auswahl der Folgestation findet ein kurzfristiger Abgleich von nachgefragten Bedarfen und angebotenen Kapazitäten statt. 4. Selbststeuerung der Ressourcen: Eine zyklische Rotation des Personals ermöglicht eine bedarfsorientierte Belegung der Arbeitsplätze. 5. Sortenreine Bereitstellung: Eine sortenreine Bereitstellung der Materialien am Verbauort zielt darauf ab, den Materialbestand sowie den Handhabungs- und Flächenbedarf im Gesamtsystem zu reduzieren. 6. Integrierte Qualitätsprozesse: Sich selbststeuernde Aufträge und entkoppelte Stationen ermöglichen integrierte Qualitätsprozesse durch kurze Regelkreise. Dadurch ist beispielsweise eine unmittelbare Reaktion auf etwaige Qualitätsprobleme realisierbar. 14 7. Anpassung an das Personal: Die personalorientierte Gestaltung und Adaption der Ar- beitsplätze, beispielsweise an physische oder kognitive Bedürfnisse, erlaubt eine individuelle Anpassung an das Personal während allen Phasen des Arbeitslebens. 8. Anpassung an Veränderungen: Die Anpassung an sich verändernde Technologien, Produktportfolios oder Kundennachfragen ist ein wichtiges Merkmal der zukünftigen Automobilmontage. Nachfolgend werden die erforderlichen Grundlagen für diejenigen Merkmale näher erläutert, die für den weiteren Verlauf der Arbeit von Relevanz sind. Die Merkmale ohne Band und Takt tragen dazu bei, räumlich und zeitlich fest definierte Vorgänger-Nachfolger-Beziehungen zwischen Stationen aufzuheben, wodurch das Konzept der frei verketteten Montage entsteht. Diese Montageorganisationsform nutzt zum einen die aus dem Werkstattprinzip bekannte räumliche und zeitliche Entkopplung der Arbeitsstationen. Zum ande- ren greift das Konzept auf das bewährte Prinzip heutiger Fließmontagen zurück, die eingesetzten Puffer zu minimieren. Als Resultat entsteht eine frei verkettete Montageorganisationsform, die bedingt durch den Verzicht auf eine räumlich und zeitlich starre Verkettung für jeden Auftrag eine bedarfsorientierte und flexible Montageabfolge erlaubt. Tabelle 2.1 stellt die Stärken und Schwächen einer frei verketteten Montage gegenüber. [Sch+17a, S. 348 ff.] Stärken Schwächen • Einfache Skalierbarkeit • Höhere Volumen- und Produktflexibilität • Verbesserte Overall Equipment Effectiven- ess • Geringere Kosten bei Anpassung durch Entkopplung und Modularisierung • Entkopplung manueller und automatisier- ter Montageressourcen • Variierende DLZ • Höherer WIP • Höherer Flächenbedarf • Aufwendige Materialbereitstellung für glei- che Teile an verschiedenen Orten • Komplexes Leitsystem erforderlich Tabelle 2.1: Stärken und Schwächen der frei verketteten Montage in Anlehnung an [Sch+17a, S. 353] Ein weiterer zentraler Aspekt ist das Prinzip der Selbststeuerung. Von einer Selbststeuerung logistischer Prozesse wird gesprochen, wenn ein Objekt Informationsverarbeitung, Entscheidungs- findung und -ausführung selbst leistet. Hierbei findet eine Verschiebung und Dezentralisierung des Entscheidungsfindungsprozesses von einer zentralen Instanz hin zu individuellen Objekten statt. [BW10, S. 59] Folglich spielt bei der Festlegung von Steuerungsstrukturen der Zentralitäts- bzw. Dezentralitäts- grad eine Rolle. Dieser ist abhängig vom zugrundeliegenden Planungs- und Steuerungsproblem. Für gewöhnlich dominiert in zentralen Systemen der Planungsanteil, wohingegen in dezentralen Strukturen oftmals Steuerungs- und Regelungsbestandteile überwiegen. Dezentralisierung zielt darauf ab, durch die Verteilung von Entscheidungen und die Zerlegung eines komplexen Ent- 15 scheidungsproblems, eine Entscheidungsfindung in vertretbarer Zeit zu ermöglichen. [Sch+08b, S. 122] Die Anwendungspotentiale und Grenzen der Selbststeuerung werden unter anderem durch den Selbststeuerungsgrad und die Systemkomplexität beeinflusst [WPB08, S. 195 ff.]. Auf eine ausführliche Diskussion dieser Grenzen und Potentiale wird an dieser Stelle verzichtet, stattdessen wird auf die Ausführungen in [Mül20, S. 78 ff.] verwiesen. Abschließend wird auf das der Arbeit zugrundeliegende Planungs- und Steuerungsverständnis eingegangen. Während Planung die gedankliche Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse inklusive der dafür erforderlichen Handlungsabfolgen mit längerfristigem Zeithorizont umfasst, stellt die Steuerung die Umsetzung des Geplanten während der Betriebsphase durch ein definiertes Regelwerk sicher [HNS20, S. 1 ff.]. Eine hohe Veränderungsfähigkeit ist für die zukünftige Automobilmontage von hoher Bedeutung, daher wird dieser Aspekt im nächsten Kapitel ausführlich betrachtet. 2.1.2.1 Systemtheoretische Grundlagen Nach [DIN14, S. 21] ist ein System eine „Menge miteinander in Beziehung stehender Elemente, die in einem bestimmten Zusammenhang als Ganzes gesehen und als von ihrer Umgebung abgegrenzt betrachtet werden“. In Abbildung 2.5 sind die wesentlichen Grundbegriffe zur Beschreibung von Systemen dargestellt. Durch die Systemgrenzen wird das betrachtete System zu seiner Umwelt abgegrenzt [PL11, S. 454]. Ein Element ist die kleinste Einheit eines Systems, deren weitere Zerlegung für die zugrundeliegende Zielsetzung und Betrachtungsweise nicht zweckmäßig ist [Luc12, S. 37]. Die Struktur eines Systems wird durch die Systemelemente sowie die zwischen den Elementen bestehenden Relationen definiert [DIN14, S. 22]. Treten in einem System Struk- turveränderungen auf, verändert sich die Zusammensetzung bzw. Beziehung der Systemelemente über die Zeit [Ver21c, S. 42]. SystemgrenzeSystemumwelt Systemrelation Systemstruktur Systemelement SysteminputSystemoutput Abbildung 2.5: Systembestandteile in Anlehnung an [Tri+13, S. 44] Gemäß dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) werden Systeme in Abhängigkeit ihres Zeitver- haltens als statisch oder dynamisch eingestuft. Ein statisches System verändert seinen Zustand 16 im Zeitverlauf nicht, da die Zeit keine veränderliche Variable darstellt. In einem dynamischen System wird die zeitliche Entwicklung explizit berücksichtigt, sodass sich der Systemzustand über die Zeit verändert. Zustandsänderungen sind in einem dynamischen System somit unter anderem abhängig vom aktuellen Systemzustand oder sich über die Zeit verändernden Eingangsgrößen. [Ver21c, S. 43] 2.1.2.2 Veränderungsfähigkeit von Logistik- und Produktionssystemen Wie Abbildung 2.6 zu entnehmen ist, lassen sich bei Produktionssystemen verschiedene Klassen der Veränderungsfähigkeit unterscheiden. Diese bauen aufeinander auf und bilden die Voraussetzung für die jeweils hierarchisch übergeordnete Klasse [Hee17, S. 9]. Abbildung 2.6: Klassen der Veränderungsfähigkeit in Anlehnung an [EW09, S. 11; Hee17, S. 9] Auf Stationsebene ist die Umrüstbarkeit angesiedelt. Sie stellt die operative Fähigkeit einer Maschine oder eines Arbeitsplatzes dar, mit geringem Aufwand und minimaler Verzögerung definierte Arbeitsoperationen an bekannten Werkstücken realisieren zu können [Wie02, S. 127]. Die Rekonfigurierbarkeit ist – im Gegensatz zur operativen Fähigkeit der Umrüstbarkeit – eine taktische Fähigkeit [Wie09, S. 35]. Dementsprechend ist die Rekonfigurierbarkeit in Abbildung 2.6 auf den darüber liegenden Ebenen angesiedelt. Gemäß [Hee17, S. 12] ist Rekonfigurierbarkeit definiert als Fähigkeit, „[...] Zustände eines Produktionssystems oder einer Ressource durch eine Änderung seiner Konfiguration anzupassen.“ Eine Anpassung der Konfiguration an veränderte Be- dingungen erfolgt im Bedarfsfall, indem einzelne Module eliminiert, hinzugefügt oder ausgetauscht werden [Wie02, S. 127; LMK01, S. 270; Hee17, S. 11]. Der Begriff Rekonfigurationsfaktor wird in dieser Arbeit verwendet, wenn ein Prozessmodul seine Konfiguration anpasst, um nachfolgend einen anderen Verbauumfang als bisher zu montieren. Mittels der Begriffe Flexibilität und Wandlungsfähigkeit, wird die Fähigkeit von Logistik- und Produktionssystemen diskutiert, sich an innere und äußere Veränderungen anzugleichen [Ver17, S. 5]. In Anlehnung an [Wes+00, S. 24] ist ein flexibles System wie folgt definiert: „Ein System wird als flexibel bezeichnet, wenn es im Rahmen eines prinzipiell vorgedachten Umfangs von 17 Merkmalen sowie deren Ausprägungen an veränderte Gegebenheiten reversibel anpassbar ist.“ Flexibilität ermöglicht somit die rasche Anpassung auf Veränderungen in bereits während der Planungsphase berücksichtigten und festgelegten Bereichen [CHN02, S. 441]. Für den Begriff des wandlungsfähigen Systems wird in dieser Arbeit ebenfalls die Definition von [Wes+00, S. 25] zugrunde gelegt: „Ein System wird als wandlungsfähig bezeichnet, wenn es aus sich selbst heraus über gezielt einsetzbare Prozess- und Strukturvariabilität sowie Verhaltens- variabilität verfügt. Wandlungsfähige Systeme sind in der Lage, neben reaktiven Anpassungen auch antizipative Eingriffe vorzunehmen. Diese Aktivitäten können auf Systemveränderungen wie auch auf Umfeldveränderungen hinwirken.“ Demnach beeinflusst die Wandlungsfähigkeit, im Unterschied zur Flexibilität, auch die strukturellen Begebenheiten des Systems, um sich an Veränderungen anzupassen [WH00, S. 38; SHK08, S. 11; Ver17, S. 5]. Mit der Wandelbarkeit existiert neben der Wandlungsfähigkeit noch ein weiterer Begriff. Während sich Wandelbarkeit vorrangig auf technische Systeme bezieht, zielt Wandlungsfähigkeit sowohl auf technische als auch soziale Systeme ab [Wes+00, S. 24 f.]. Der Zusammenhang zwischen Flexibilität und Wandlungsfähigkeit ist zusammenfassend in Abbildung 2.7 dargestellt. Zeit W an d lu n gs d im en si o n ( z. B . S tü ck za h l) Flexibilitätskorridor Flexibilitätskorridor Stabile Strukturen Strukturelle Systemveränderungen Flexibilitätskorridor Wandlungs- korridor Wandlungs- korridor Abbildung 2.7: Gegenüberstellung Flexibilität und Wandlungsfähigkeit in Anlehnung an [ZMV05, S. 3; WRN14, S. 129; Ver17, S. 10] Um einen Wandel in einem System zu unterstützen, werden die Systemelemente mit spezifischen Eigenschaften ausgestattet, die als Wandlungsbefähiger bezeichnet werden [Her03, S. 54]. In der Literatur haben sich insbesondere die folgenden fünf Wandlungsbefähiger etabliert [WH00, S. 39 f.; Her03, S. 54 ff.; Wie05, Folie 6; NKL05, S. 26 f.; NHB07, S. 290; Wie+07, S. 787 f.]: • Universalität beschreibt die Eigenschaft eines Systems für unterschiedliche Anforderungen in Hinblick auf Produkt, Funktion, Organisation oder Technologie verwendbar zu sein. • Mobilität sorgt für eine örtliche Beweglichkeit der Elemente. • Modularität bezieht sich auf standardisierte, vorgeprüfte Funktionseinheiten oder -elemente, die eine hohe Austauschbarkeit untereinander ermöglichen. 18 • Kompatibilität kennzeichnet die Vernetzungsfähigkeit von Systemen in Bezug auf Infor- mationen, Energie oder Materialien. • Skalierbarkeit ermöglicht die räumliche, personelle, technische oder organisatorische Erweiter- und Reduzierbarkeit eines Systems. Auch die logistische Reaktionsfähigkeit begünstigt den Wandel eines Systems. Sie beschreibt gemäß [Bau16] die Fähigkeit eines Unternehmens, auf dynamische Änderungen durch logistische Maßnahmen, wie etwa Kapazitäts- und Bestandsanpassungen zu reagieren, um veränderte Nachfragen oder Störungen auszugleichen. Die logistische Reaktionsfähigkeit umfasst insbesondere die Dimensionen Zeit und Menge. [Bau16, S. 5 f.] 2.1.2.3 Einordnung der fluiden Produktion als Ausprägungsform eines veränderungsfähigen Systems Die Abgrenzung und Einordnung von Produktionssystemen erfolgt vorrangig auf Produktionssys- temebene. Dieser Terminologie wird in diesem Kapitel gefolgt. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die Einordnung und Übertragung auf ein fluides Montagesystem vorgenommen. Die nachfolgend eingeführten und verwendeten Abkürzungen finden insbesondere in diesem Kapitel Anwendung und unterstützen die Einordnung der Produktionssysteme. Folgende Produktionssysteme sind für die Einordnung eines fluiden Produktionssystems von Relevanz: • Klassische Produktionslinien (engl.: Dedicated Manufacturing Line (DML)) sind meist für einen dedizierten Anwendungsfall ausgelegt. Sie werden eingesetzt, um ein homogenes Produktspektrum in hoher Stückzahl über einen längeren Zeitraum hinweg wirtschaftlich herzustellen [KS10, S. 131]. In der Automobilindustrie sind DML auf vorab definierte Modelle und Stückzahlen ausgerichtet [SZ17, S. 39]. Eine Skalierung der Stückzahlen ist lediglich durch Vervielfachung der Linie realisierbar [FEB17, S. 169]. • Flexible Produktionssysteme (engl.: Flexible Manufacturing System (FMS)) verfügen über eine größere Flexibilität als DML. Dabei werden FMS a priori mit Flexibilität aus- gestattet, sodass ein vorab definiertes Produktspektrum herstellbar ist [Wie+07, S. 789]. Lediglich im Rahmen dieses Produktspektrums gelten FMS als flexibel [TK92, S. 18]. Anpas- sungen, die über den vorgehaltenen Flexibilitätskorridor hinausgehen, sind meist technisch aufwendig und kostenintensiv [Hee17, S. 16]. FMS erreichen nicht die Produktivität von DML [KS10, S. 131]. • Rekonfigurierbare Produktionssysteme (engl.: Reconfigurable Manufacturing System (RMS)) zielen darauf ab, die hohe Produktivität der DML mit der Flexibilität der FMS zu kombinieren. RMS sind – im Unterschied zu DML und FMS – hinsichtlich der Kapazität und Funktionalität mit geringerem Aufwand an sich ändernde Bedingungen anpassbar. [KS10, S. 131 ff.] • Matrix-Produktionssysteme (engl.: Matrix Manufacturing System (MMS)) zielen dar- auf ab, bisher starr verkettete Stationen zu entkoppeln und nutzen das Konzept der Taktunabhängigkeit [Gre20, S. 169 ff.]. Taktunabhängigkeit wird unter anderem durch das 19 Prinzip der freien Verkettung ermöglicht, bei dem die Produkte das Produktionssystem auf individuellen Pfaden durchlaufen [aca22, S. 7]. MMS bieten steuerungsseitig zusätzliche Frei- heitsgrade in Hinblick auf die Operationsreihenfolge und Arbeitsverteilung [Fri+21, S. 41]. Darüber hinaus sind MMS in der Lage, sich dynamisch an Variantenmix-Verschiebungen oder Änderungen des Produktionsvolumens anzupassen [Ech20, S. 2]. Die ursprüngliche Entwicklung von MMS hat nicht im Kontext der Industrie 4.0 stattgefunden [Gre20, S. 381]. • Bei besonders dynamischen Systemstrukturen entwickelt sich ein MMS zu einem fluiden Produktionssystem (engl.: Fluid Manufacturing System (FLMS)) [aca22, S. 9]. Somit ist das in der ARENA2036 entwickelte FLMS eine MMS-Weiterentwicklung, welches auf dem Prinzip der Ad-hoc-Ressourcenallokation und -Rekonfiguration basiert [Fri+21, S. 40 f.]. Im Unterschied zu MMS wird bei FLMS die Ortsfixierung und feste Betriebsmittelzuordnung aufgelöst und somit eine weitgehende Modularität und Mobilität aller Systemelemente zugrunde gelegt [Fri+19, S. 79; Fri+21, S. 41], sodass bei einer vollständigen Umsetzung von FLMS letztendlich nur noch das Produktionsgebäude als unbewegliches Element übrig bleibt [aca22, S. 9]. Dadurch ist ein FLMS ein aus Einzelsystemen bestehendes Produktionssystem, welches sich bedarfsorientiert zusammenschließt und wieder auflöst [Fri+19, S. 79]. Die den FLMS zugrundeliegenden Freiheitsgrade werden zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgegriffen. Abbildung 2.8 zeigt einen Vergleich und die Einordnung der Produktionssysteme in Hinblick auf Kapazität und Funktionalität. Zu erkennen ist die grundlegende Eigenschaft eines FLMS, ver- gleichsweise dynamisch auf auftretende Kapazitäts- und Funktionalitätsänderungen zu reagieren. DML Produkte B&C Funktionalität: Zunehmende Produkt- und Variantenvielfalt K ap az it ät ( St ü ck za h le n ) RMS (Phase 2) RMS (Phase 3) RMS (Phase 4) FMSMMS (Phase 1) RMS (Phase 1) FMSFMSFMS FMSFMSMMS (Phase 2) FMSFMSFLMS (Phase 1) FMSFLMS (Phase 3) FMSFMSFMSFLMS (Phase 2) Produziert hohes Volumen Teil A Produziert hohe Varianz bei niedriger Stückzahl Legende: Phase 1 | Phase 2 | Phase 3 | Phase 4: Heterogene Ausprägungen der Produktionssysteme hinsichtlich Kapazität bzw. Funktionalität während unterschiedlicher Zeitabschnitte Abbildung 2.8: Produktionssystemvergleich hinsichtlich Kapazität und Funktionalität, um FLMS erweiterte Darstellung in Anlehnung an [KS10, S. 133; Fri+21, S. 39 ff.; Fec22, S. 58; aca22, S. 11] Ein weiteres, wesentliches Merkmal eines FLMS ist, dass es sich weitgehend aus CPS zusam- mensetzt. Gemäß [VV21, S. 4] ist ein CPS ein „System, das auf einem mechatronischen Kern 20 basiert, der durch seine Vernetzung mit dem Internet der Dinge und Dienste gekennzeichnet ist, wodurch beispielsweise Verhaltens- oder Eigenschaftsänderungen während des Betriebs ermöglicht werden“. Wie in der Richtlinie weiter präzisiert wird, besteht der Kern aus einem bzw. mehreren mechatronischen Systemen, die mit Sensoren, Aktoren und der Fähigkeit zur Informationsver- arbeitung ausgestattet sind, wodurch das System über seine Systemgrenzen hinausgehend zur Kommunikation und Interaktion mit umgebenden Systemen befähigt ist [VV21, S. 4]. Folglich stellt das FLMS ein Cyber-physisches Produktionssystem (CPPS) dar. In Abbildung 2.9 ist die Struktur von CPPS dargestellt. Datenerfassung Daten- erfassung Daten- aufbereitung Physische Welt Maschinen- verhalten Parameter und Einstellungen Cyber Welt Modellierung und Simulation Data Mining Feedback / Regelung Visualisierung Entscheidungs- unterstützung Mensch- zentrierter Ansatz Abbildung 2.9: Struktur von CPPS in Anlehnung an [TJH16, S. 9; Lab21, S. 33] In Tabelle 2.2 ist eine zusammenfassende Bewertung und Gegenüberstellung der Produktions- systeme dargestellt. Bedingt durch den hohen Vernetzungsgrad der Systembestandteile, welcher durch die Umsetzung als CPPS ermöglicht wird, zeichnet sich das FLMS besonders durch eine hohe Flexibilität und Anpassungsgeschwindigkeit aus [Fri+21, S. 42 f.]. In Hinblick auf die Anpassungsgeschwindigkeit bei auftretenden Änderungen liegt dem MMS eine periodische Rekonfigurierbarkeit zugrunde, wohingegen die Systembestandteile des FLMS dynamisch rekonfi- gurierbar sind [aca22, S. 10]. Merkmal DML FMS RMS MMS FLMS System-Typ Starres System Veränderungsfähiges System Hohe Produktionskapazität Flexibilität bei volatiler Nachfrage Flexibilität bei Varianten-Mix Möglichkeit zur Integration neuer Technologien Geringe Steuerungskomplexität Hohe Anpassungsgeschwindigkeit Geringe Betriebskosten Geringe Rekonfigurationskosten Legende: nicht erfüllt | teilweise erfüllt | voll erfüllt Tabelle 2.2: Bewertung und Gegenüberstellung der Produktionssysteme in Anlehnung an [Fri+21, S. 39 ff.; Fec22, S. 59; aca22, S. 10] 21 2.1.2.4 Konkretisierung eines fluiden Montagesystems Neben der freien Verkettung sind Prozessmodule, die bisher noch nicht hinreichend betrach- tet wurden, ein wesentlicher Bestandteil eines fluiden Montagesystems. Prozessmodule sind cyber-physische Produktionsfraktale [Bau14, S. 21]. Sie werden gebildet, indem Prozesse durch Modularisierung in definierte Abschnitte zerlegt werden [ABW03, S. 216; MEN07, S. 472]. Ein Prozess ist gemäß [DIN14, S. 32] die „Gesamtheit von aufeinander einwirkenden Vorgängen in einem System, durch die Materie, Energie oder Information umgeformt, transportiert oder gespei- chert wird“. Prozessmodule sind die kleinsten universellen und wiederverwendbaren Einheiten eines Montagesystems, welche als abgrenzbare Subsysteme verlagert, ausgegliedert, rekonfiguriert und vervielfältigt werden können [ABW03, S. 215 f.]. Unterschiedliche Prozesszeiten werden realisiert, indem jedes Prozessmodul in der Lage ist, min- destens zwei unterschiedliche Arbeitsinhalte auszuführen und zwischen diesen zu wechseln [Gre20, S. 185]. Um heterogene Arbeitsinhalte auszuführen, verfügt ein Prozessmodul über die dafür erforderlichen Prozessfähigkeiten. Von Redundanz wird gesprochen, wenn innerhalb eines Systems bzw. Objekts mehr als ein Mittel zur Erfüllung einer geforderten Funktion vorhanden ist [DIN18, S. 21]. Das redundante Vorhandensein von Prozessmodulen bzw. deren Fähigkeiten ermöglicht für jeden Auftrag einen individuellen Pfad durch das Montagelayout und trägt gleichzeitig zur Reduzierung von Warte- und Stillstandszeiten bei [Gre20, S. 217 f.]. Ein weiterer Vorteil dieser Redundanz ist, dass bei auftretenden Störungen nicht das gesamte Montagesystem blockiert wird. Allerdings bindet das redundante Vorhalten der Systembestandteile auch Ressourcen. Die der fluiden Montage zugrundeliegende freie Verkettung der Prozessmodule sowie deren Eigenschaften tragen zur Existenz verschiedener Freiheitsgrade bei. Ein fluides Montagesystem basiert auf folgenden Freiheitsgraden [Fri+19, S. 79; FWF20, S. 21 f.; Fri+21, S. 41]: • Die Operationsreihenfolge definiert die Reihenfolge der Arbeitsvorgänge aus Auftrags- sicht. • Die Arbeitsverteilung definiert die Verteilung der Arbeitsvorgänge zu Prozessmodulen aus Ressourcensicht. • Der Arbeitsinhalt definiert die den Prozessmodulen zugeordneten Funktionalitäten. • Die Layoutposition definiert die Position der Prozessmodule und Materialbereitstellflächen auf dem Shopfloor. Die Freiheitsgrade unterstützen eine kurzzyklische Anpassung und Reaktion auf veränderte Anforderungen. Darüber hinaus ist das Ergänzen neuer Produkte und Produktvarianten ohne nennenswerte Unterbrechungen des Betriebsablaufs möglich. Zudem wird Verschwendung durch eine unverhältnismäßige System- oder Prozessauslegung gemäß der Lean-Prinzipien reduziert, welche beispielsweise aus einer ineffizienten Vorfestlegung des Systementwurfs resultiert [FD20, S. 147 ff.]. In Abbildung 2.10 sind beispielhaft zwei Konfigurationen eines fluiden Montagesystems zu unterschiedlichen Zeitpunkten dargestellt. Die gezeigten Systemstrukturen verdeutlichen das Potential eines fluiden Montagesystems. 22 Fluide Montage zum Zeitpunkt t=0 Fluide Montage zum Zeitpunkt t=1 Prozessmodule LogistikflächenLegende: Auftrag Auftrag Auftragsroute Variante A Auftragsroute Variante B Abbildung 2.10: Beispielhafte Veränderung der Produktions- und Logistikstruktur im Zeitverlauf in Anlehnung an [Hin+23, S. 419] Infolgedessen sind für ein fluides Montagesystem flexible und dynamische Materialflussstrukturen charakteristisch [HS22, S. 13]. Gemäß [Ver19c, S. 2] ist der Materialfluss „[...] die Verkettung aller Vorgänge beim Gewinnen, Be- und Verarbeiten sowie bei der Verteilung von Gütern innerhalb festgelegter Bereiche.“ Unter Berücksichtigung der beschriebenen Freiheitsgrade resultiert aus diesen Strukturen neben einem hohen Steuerungsaufwand für die Montage auch ein hoher logisti- scher Koordinationsaufwand, der sich beispielsweise durch die Verschiebung von Bereitstellorten bemerkbar macht und sich folglich auch auf die Materialbereitstellung auswirkt. Aufgrund dieser Charakteristik ist die fluide Montage für den weiteren Verlauf der Arbeit von Relevanz. Darüber hinausgehend bedarf es einer systematischen Auseinandersetzung mit der logistischen Material- bereitstellung in fluiden Montagesystemen. Im nächsten Kapitel werden die dafür erforderlichen Grundlagen beschrieben. 2.2 Materialbereitstellung in der Automobilmontage In diesem Kapitel werden die Grundlagen zur Materialbereitstellung in der Automobilmontage beschrieben. Bevor die Einordnung der Materialbereitstellung erfolgt, wird zunächst auf den Materialbegriff eingegangen und der logistische Bezugsrahmen der Arbeit vorgestellt. Der Begriff Material umfasst alle Gegenstände der Materialwirtschaft, die zur Erzeugung von Gütern erforderlich sind [Här99, S. 28]. Materialien existieren in vielfältigen Ausprägungsformen. In Tabelle 2.3 sind ausgewählte Materialklassen beschrieben, die für die Automobillogistik von Relevanz sind. Von diesen sind u. a. Zulieferteile, Halbfabrikate, Baugruppen sowie Module von Bedeutung für die vorliegende Arbeit. Der Materialbedarf ist die Art und Menge an Materialien, die zur Erfüllung eines vorliegenden Produktionsprogramms benötigt werden. Allgemein lassen sich drei Bedarfsarten unterscheiden. Der Primärbedarf resultiert aus dem Bedarf an verkaufsfähigen Erzeugnissen. Der Sekundär- bedarf wird aus dem Primärbedarf abgeleitet und umfasst etwa Baugruppen, Einzelteile und Rohstoffe. Als Tertiärbedarf wird der Bedarf an Hilfs- und Betriebsstoffen bezeichnet, der für die 23 Begriff Beschreibung Rohstoff Materie ohne definierte Form, welche gefördert, angebaut, abgebaut oder gezüchtet wird und als Ausgangssubstanz für Werkstoffe genutzt wird (z. B. Erz oder Kohle) [Här99, S. 30]. Rohstoffe werden bei Automobilherstellern nur selten direkt verarbeitet [Ihm06, S. 229]. Werkstoff Aufbereiteter Rohstoff, der beispielsweise als Basis für Hilfs- und Betriebsstoffe dient (z. B. Kunststoffpulver oder Rohglas) [Ihm06, S. 229]. Hilfsstoff Stoffe, die im Herstellungsprozess benötigt werden, allerdings nicht bzw. nur teilweise in das Enderzeugnis eingehen (z. B. Klebstoff) [Ihm06, S. 229]. Betriebsstoff Stoffe, die während Herstellungsprozessen verbraucht, aber kein Bestandteil des Enderzeugnisses werden (z. B. Energie oder Kühlwasser) [Har05, S. 18]. Zulieferteil Materialien, die von Lieferanten bezogen werden und während des Herstellungsprozesses in das Enderzeugnis eingehen (z. B. Schließsystem oder Heiz-/Klimamodul) [Här99, S. 29; Wan21, S. 63]. Halbzeug Material, das bereits teilweise bearbeitet ist, allerdings eine Weiterverarbeitung benötigt, um gebrauchsfertig zu werden (z. B. Bleche oder Gussstücke) [DIN12, S. 12]. Handelsware Handelswaren werden dem Enderzeugnis unverarbeitet bereitgestellt und dienen der Produkterweiterung (z. B. Verbandstasche für das Auto) [Här99, S. 29]. Halbfabrikat Unfertiges Zwischenprodukt, das sich von anderen Materialarten wie etwa Hilfsstoffen durch einen höheren Reifegrad unterscheidet (z. B. im Aufbau befindliches Fahrzeug) [Tho+17, S. 140; Kie+18, S. 60; Har05, S. 550]. Baugruppe Eine Baugruppe besteht aus mindestens zwei Einzelteilen, welche auf einer nachgelagerten Montageebene Bestandteil des sich im Aufbau befindlichen Produkts wird [KR09, S. 26]. Modul Module sind aus funktionaler, logistischer und produktionstechnischer Perspektive abgrenzbare, komplexe und individuelle Baugruppen, die über definierte Schnittstellen zum Fahrzeug verfügen (z. B. Cockpitmodul). Beim endgültigen Verbau des Moduls in das Fahrzeug wird dieses meist als großes Bauteil wahrgenommen und integriert. [KSW05, S. 246 f.] Fertigerzeugnis (Enderzeugnis) Das Fertigerzeugnis stellt das vom Unternehmen hergestellte Endprodukt dar (z. B. Automobil) [Wan21, S. 63]. Sonstige Materialien Alle Materialien, die lediglich unmittelbar für den Herstellungsprozess benötigt und nicht Bestandteil des Enderzeugnisses werden (z. B. Büromaterial) [Har05, S. 29]. Tabelle 2.3: Materialklassen, eigene Darstellung Durchführung der Betriebsaufgaben benötigt wird. [Har05, S. 275 ff.; WW19, S. 294 f.; REF91, S. 82 f.] Logistiksysteme lassen sich hinsichtlich einer institutionellen und funktionellen Perspektive abgrenzen. Während bei der funktionellen Sichtweise die Systeme bezüglich der Funktionen differenziert werden, erfolgt bei der institutionellen Betrachtung eine Unterscheidung nach den im System betrachteten Institutionen. Wird die Unternehmenslogistik nach der institutionellen Abgrenzung beleuchtet, lassen sich in Abhängigkeit des Unternehmenszwecks Industrie-, Handels- oder Dienstleistungslogistik unterscheiden. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Logistik in Industriebetrieben. [Pfo18, S. 14 ff.] In Abbildung 2.11 ist am Beispiel eines Industrieunternehmens die funktionelle Abgrenzung von Logistiksystemen dargestellt, wobei die Subsysteme der Logistik nach den Phasen des Güterflusses gegliedert werden. Die Produktionslogistik ist zwischen der Beschaffungs- und Distributionslogis- tik angesiedelt. Gegenstand der Beschaffungslogistik ist die Versorgung des Unternehmens mit 24 Zukaufgütern und Dienstleistungen, die im Unternehmen nicht selbst erzeugt und extern vom Beschaffungsmarkt bezogen werden [Bec19, S. 20 f.]. Die Aufgabe der Produktionslogistik umfasst die Planung, Steuerung und Überwachung der Materialflüsse vom Wareneingang über den voll- ständigen Herstellungsprozess bis hin zum Warenausgang [Paw07, S. 14]. Die Distributionslogistik beginnt im Warenausgang des abgebenden Unternehmens und umfasst die Warenverteilung über den Absatzmarkt an die Empfänger [Gud12, S. 5]. Zulieferungs-/ Beschaffungs- lager Produktions- prozess Zwischenlager Absatz-/ Auslieferungs- lager Absatzmarkt Beschaffungs- markt Entsorgungs- markt Entsorgungslogistik Produktions- logistik Distributions- logistik Beschaffungs- logistik Unternehmenslogistik GüterflussLegende: Abbildung 2.11: Funktionelle Abgrenzung von Logistiksystemen in Anlehnung an [Pfo18, S. 19] Mit der Intralogistik und innerbetrieblichen Logistik existieren weitere Begriffe, die in der Literatur teilweise synonym verwendet werden [Mar16, S. 9; Gud12, S. 5; Bic+17, S. 108]. Die innerbetriebliche Logistik ist weiter gefasst als die Produktionslogistik, da diese auch Bereiche der Beschaffungs- und Distributionslogistik umfasst [Mar16, S. 4 und 9]. Darüber hinausgehend ist die Intralogistik als Branche zu verstehen, die nicht auf produzierende Unternehmen beschränkt ist [Hah05, S. 17; BP04, S. 423; KKK12, S. 250 f.]. Im Kontext der Automobilindustrie bilden die Beschaffungs- und Produktionslogistik zusammen die Materialversorgung. Die Aufgabe der Materialversorgung umfasst die Durchführung und Steuerung des physischen Materialflusses vom Lieferanten bis zum Materialverwendungsort und beansprucht dabei Transport-, Warenannahme-, Lager- und Bereitstellungsprozesse [Her05, S. 140]. Für die Umsetzung der Materialversorgung haben sich in der Automobilindustrie Standard- belieferungsformen etabliert, bei denen zwischen lagerlosen und -haltigen Belieferungskonzepten unterschieden wird [Ver08, S. 1]. Bei der lagerhaltigen Belieferung sind eine oder mehrere Lagerstufen in der Lieferkette vom Lieferanten bis zum OEM integriert. Lagerstufen werden eingesetzt, um die Produktions- und Logistikprozesse des Automobilherstellers von denen seiner Zulieferer zu entkoppeln. Die Anzahl an Lagerstufen gilt es aus Kostengesichtspunkten zu reduzieren. Verwendung finden lagerhaltige Belieferungskonzepte beispielsweise bei Teilen mit geringer Wertigkeit, schwierig zu prognosti- zierenden Materialbedarfen oder stark schwankenden Transportzeiten durch große räumliche Entfernung der Lieferanten. [Ver08, S. 5; Klu18, S. 12, 349] 25 Die lagerlose Belieferung zielt darauf ab, Lagerstufen bei der Materialversorgung zu vermei- den. Zu den typischen Vertretern der lagerlosen Belieferungskonzepte zählen die Strategien Just-in-Time (JIT) und Just-in-Sequence (JIS). Bei diesen Strategien handelt es sich um eine produktionssynchrone und bedarfsgesteuerte Direktanlieferung an den Bedarfsort des Kunden [Klu18, S. 341 ff.]. Während bei JIT eine sortenreine Belieferung stattfindet, erfolgt bei JIS eine sequenzierte Anlieferung in Abhängigkeit der Fahrzeug-Perlenkette in der Montage [Ver08, S. 5 ff.]. JIT wird bei Teilen mit geringer Varianz und hohem Transportvolumen eingesetzt, wohingegen JIS bei variantenreichen Materialien mit großem Volumen und hohem Wert Verwen- dung findet [GH18, S. 125 ff.; Ver08, S. 15]. Teilweise werden auch bei der lagerlosen Belieferung dezentrale Materialpuffer oder Sicherheitspuffer eingesetzt, um eine exakte Mengen-, Sequenz- oder Zeitsynchronität in Verbauortnähe sicherzustellen [Ver12a, S. 5; GH18, S. 124; Ver01, S. 14]. Die eben erwähnte Perlenkette ist ein zentrales Element für die Koordination der Automobilher- stellung. In diesem Kontext wird auch das Konzept der stabilen Auftragsreihenfolge diskutiert [Wec11, S. 49]. Bei der Generierung der Perlenkette wird ausgehend von Kundenaufträgen, welche vom Vertrieb an die Produktion übermittelt werden, durch die Aneinanderreihung einzelner Aufträge (Perlen) eine spezifische Auftragsreihenfolge gebildet [Wey02, S. 59]. [Mei09, S. 28] unterscheidet zwischen einer strengen Perlenkette, bei der die Kundenaufträge bereits zu Beginn des Herstellungsprozesses mit der Karosse gekoppelt werden und die festgelegte Reihenfolge über alle Gewerke hinweg erhalten bleibt, und einer modifizierten Perlenkette, bei welcher sich die geplante Reihenfolge zwischen den Gewerken unterscheidet. Somit definiert die Perlenkette die Reihenfolge, in der die Fahrzeuge in die Endmontage eingeschleust werden. Diese Reihenfolge gilt es nach Möglichkeit bis zum Ende der Montage aufrechtzuerhalten [Mei09, S. 6]. Die Perlenkette wird bereits einige Tage vor dem tatsächlichen Montagebeginn mit einem fixen Planungsstand eingefroren [Wey02, S. 59]. Der Zeitpunkt, ab wann die Perlenkette fixiert wird, unterscheidet sich je nach OEM und liegt meist zwischen vier und acht Tagen vor Beginn der Montage [Sta12, S. 52]. Ein Grund für das Einfrieren der Perlenkette ist, dass neben der produk- tionsorientierten Perspektive der Perlenkette auch eine belieferungsorientierte Betrachtungsweise existiert, welche auf die der Automobilproduktion vorgelagerten Wertschöpfungsnetzwerke aus- gerichtet ist [Sta12, S. 32 ff.]. Die dort angesiedelten Zulieferer richten ihre Herstellungs- und Belieferungsprozesse nach den Perlenkettenvorgaben der OEM aus [Wey02, S. 59]. Die Bedarfs- planung hat die Ermittlung des mengen- und zeitpunktbezogenen Materialbedarfs über das gesamte Zuliefernetzwerk zur Aufgabe, wobei zyklisch ablaufende Planungsrunden mit immer verbindlicher werdenden Abrufen (z. B. Liefer-, Fein- oder Produktionsabruf) charakteristisch für die Planung des Materialbedarfs in der Automobilindustrie sind [FKS07, S. 52]. Der Impuls, der den Abruf des Materialnachschubs auslöst, wird Materialabruf genannt [Klu18, S. 199]. Der eingefrorene Planungsstand der Perlenkette wird als Frozen-Zone oder Frozen-Period be- zeichnet. Mit dem Erreichen der Frozen-Zone sind keine Änderungen mehr am Auftrag und der Perlenkette erlaubt. Einerseits trägt eine lange Frozen-Zone zu einer hohen Planungs- und Prozesssicherheit innerhalb des Wertschöpfungsnetzwerks bei, andererseits begrenzt sie auch die Änderungsflexibilität gegenüber späten oder nachträglichen Kundenwünschen. [Klu17, S. 148 f.] 26 2.2.1 Einordnung der Materialbereitstellung Beschaffung Produktion Distribution la n g- fr is ti g m it te l- fr is ti g K u rz - fr is ti g • Lieferantenwahl • Make-or-Buy-Entscheidung • Fabrik-/Layoutplanung • Mengenplanung • Distributionsnetzplanung • Wahl des Anlieferprinzips • Kontraktabschluss • Personalbestandsplanung • Wahl der Materialbereit- stellungsstrategie • Kontraktabschluss • Personalbestandsplanung • Transportmittelplanung • Transportwegeplanung • Personaleinsatz • Materialabrufe • Materialbereitstellung • Lagerdisposition • Fahrzeugeinsatzplanung Abbildung 2.12: Einordnung der Materialbereitstellung nach Zeithorizont und logistischem Funk- tionsbereich in Anlehnung an [Gol14, S. 24] Gemäß [BL94, S. 9] wird unter Materialbereitstellung „[...] die technische, organisatorische und personelle Gestaltung, Durchführung und Steuerung des Materialflusses [...] sowie des begleiten- den und steuernden Informationsflusses verstanden.“ Die Materialbereitstellung verbindet die Materialversorgung mit dem Montageprozess [NSW08, S. 281]. Somit lässt sich die Material- bereitstellung als Aufgabe und Bestandteil der Produktionslogistik und des innerbetrieblichen Materialflusses einordnen [Ver95, S. 2; Mar16, S. 6; Grü04, S. 19]. Eine weitere Einordnung der Materialbereitstellung ist mittels der von [Gol14, S. 24] erstellten Planungsmatrix logistischer Probleme möglich, die in Abbildung 2.12 dargestellt ist. Gemäß dieser Systematik ist die Mate- rialbereitstellung im Funktionsbereich der Produktionslogistik mit kurzfristigem Zeithorizont verortet. Die Materialbereitstellung schließt als unternehmensinterner Abschnitt an die externe Beschaf- fung an, welche im Wareneingang des Verbrauchers endet [NWW12, S. 288]. Folglich setzt die Materialbereitstellung voraus, dass wesentliche Aufgaben der Materialwirtschaft, insbesondere die Materialbedarfsermittlung sowie die Materialbeschaffung, bereits durchlaufen sind und das Material im Betrieb verfügbar ist [REF91, S. 73 ff.]. Im Anschluss an die Materialbereitstel- lung folgt die Zuführung, die die Strecke zwischen dem Bereitstellort und dem eigentlichen Ausführungsort des Montageprozesses überbrückt [NWW12, S. 288]. Abbildung 2.13 zeigt die Einordnung der Materialbereitstellung zwischen der externen Beschaffung und der internen Zuführung zur Montage, wo das Material verbaut wird. Darüber hinausgehend erfolgt an dieser Stelle eine kurze Einordnung der Materialbereitstellung in den Kontext betrieblicher Anwendungssysteme. Bei diesen zählen unter anderem Manufacturing Execution System (MES) und Enterprise Ressource Planning (ERP) zu den bedeutendsten Vertretern. Die ERP-Systeme arbeiten mit einem mittel- bis längerfristigen Zeithorizont und haben die Aufgabe, eine optimale Ressourcenallokation in Bezug auf die betriebliche Wertschöp- fung zu gewährleisten. Hierzu nutzen ERP-Systeme überwiegend stark verdichtete Daten mit 27 Abbildung 2.13: Begriffsabgrenzung Materialbereitstellung in Anlehnung an [Gol14, S. 30] einem geringen Detaillierungsgrad. MES arbeiten dahingegen mit einem deutlich kurzfristigeren Zeithorizont und zielen darauf ab, alle Produktionsprozesse zeitnah zu planen und zu steuern sowie den gegenwärtigen Material- und Informationsfluss abzubilden. MES werden aufgrund des Zeitverhaltens mitunter als Echtzeitsysteme bezeichnet, was bedeutet, dass die benötigte Zeitdauer des MES, um auf bestimmte Zustände oder Ereignisse zu reagieren und einzuwirken, geringer ist als die Reaktionszeit des Prozesses auf diese Zustände. Hinsichtlich der für den Herstellungsprozess benötigten Materialien bestimmt das ERP-System den Materialbedarf, sorgt für die Auslösung von Bestellvorgängen und verantwortet die Bestandsführung in den Lagern. Das MES koordiniert dahingegen u. a. die konkrete Materialverwendung, organisiert den logistischen Materialbereitstellungsprozess und prüft zu gewissen Teilen die Materialverfügbarkeit. [DIN16, S. 8; Ver16a, S. 2 ff.] Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung in produzierenden Unternehmen verändern sich auch die Anforderungen an die MES, welche heutzutage überwiegend als monolithische Softwareappli- kationen mit hersteller- und anwendungsfallspezifischen Schnittstellen ausgestaltet sind. Die Entwicklungstrends legen nahe, dass sich die gegenwärtigen MES-Strukturen in einzelne eigen- ständige Applikationen auftrennen und vermehrt externe Services eingebunden und genutzt werden. Diese sind untereinander vernetzt und kommunizieren über dezentrale Schnittstellen miteinander. [Ver21b, S. 12 ff.] 2.2.2 Aufgabe und Parameter der Materialbereitstellung Die Aufgabe der Materialbereitstellung ist es, das im Betrieb verfügbare Material in der erforder- lichen Art und Menge termingerecht am Bedarfsort für die Durchführung der definierten Aufgabe zur Verfügung zu stellen [REF91, S. 172]. Die Aufgabe der Materialbereitstellung lässt sich in die Bereiche Planen, Steuern und Durchführen untergliedern [BL94, S. 7 ff.; REF91, S. 172 ff.]: • Das Planen der Materialbereitstellung umfasst unter anderem die Festlegung organisatori- scher Abläufe und Bereitstellungsprinzipien oder die Auswahl der Bereitstellungstechnik. • Die Steuerung der Materialbereitstellung orientiert sich am Planungsrahmen und hat zur Aufgabe, die Durchführung der Materialbereitstellung zu veranlassen, zu sichern und zu überwachen. • Das Durchführen der Materialbereitstellung umfasst physische Operationen wie das Lagern, Kommissionieren, Transportieren oder das Materialhandling am Bereitstellort. 28 Bei der Planung und Auslegung der Materialbereitstellung sind verschiedene Einflussfaktoren zu berücksichtigen, wobei u. a. das Transportsystem, die Materialeigenschaften oder das Fabriklayout als Beispiele genannt werden können [Her+21, S. 449]. Die wesentlichen Org