# Franziska Kern Untersuchung zum Designalter der Produktgestalt im automobilen Kontext Bericht Nr. 716 Institut für Konstruktionstechnik und Technisches Design Universität Stuttgart Forschungs- und Lehrgebiet Technisches Design Prof. Dr.-Ing. T. Maier Untersuchung zum Designalter der Produktgestalt im automobilen Kontext Von der Fakultät Konstruktions-, Produktions- und Fahrzeugtechnik der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde eines Doktor-Ingenieurs (Dr.-Ing.) genehmigte Abhandlung von Franziska Kern geboren in Dortmund Hauptberichter: Univ.-Prof. Dr.-Ing. Thomas Maier Mitberichter: Univ.-Prof. Dr.-Ing. Andreas Wagner Tag der mündlichen Prüfung: 19.09.2023 Institut für Konstruktionstechnik und Technisches Design Forschungs- und Lehrgebiet Technisches Design Universität Stuttgart 2023 D 93 ISBN-13: 978-3-946924-24-1 Institut für Konstruktionstechnik und Technisches Design Forschungs- und Lehrgebiet Technisches Design Univ.-Prof. Dr.-Ing. Thomas Maier Universität Stuttgart Pfaffenwaldring 9 D-70569 Stuttgart Telefon +49 (0)711 685-66055 Telefax: +49 (0)711 685-66219 E-Mail: mail@iktd.uni-stuttgart.de Inhaltsverzeichnis I Vorwort "Müde macht uns die Arbeit, die wir liegen lassen, nicht die, die wir tun." (Marie von Ebner-Eschenbach) Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als akademische Mitarbeiterin am Forschungs- und Lehrgebiet Technisches Design des Instituts für Konstruktionstech- nik und Technisches Design (IKTD) der Universität Stuttgart. Dessen Leiter Herrn Prof. Dr.-Ing. Thomas Maier danke ich herzlich für das in mich ge- setzte Vertrauen und seine Unterstützung bei der Umsetzung meiner Forschungsidee. Seiner Fürsprache verdanke ich die Forschungsförderung der Firma Index, mit der die umfangreichen Probandenversuche realisiert werden konnten. Ebenfalls danke ich Herrn Prof. Dr.-Ing. Andreas Wagner für das Interesse an meiner Arbeit und das Verfassen des Mitberichtes sowie Frau Prof. Dr.-Ing. Katharina Hölzle für die Übernahme des Prüfungsvorsitzes meiner mündlichen Doktorprüfung. Des Weiteren möchte ich den Kollegen und Kolleginnen am IKTD, allen voran Herrn Dr.- Ing. Daniel Holder, meinen Dank aussprechen für die angenehme Zusammenarbeit. Die fachlichen Diskussionen und Anregungen zu meiner Forschungsarbeit habe ich stets als bereichernd empfunden. Ich danke auch Herrn Dr.-Ing. Philipp Pomiersky, Herrn Florian Reichelt M.Sc. und Herrn Lutz Fischer M.Sc. für die sorgfältige Durchsicht dieser Arbeit. Nicht zuletzt ihre kritischen Hinweise und Fragen haben der Dissertation ihren Feinschliff gegeben. Besonderer Dank gilt meiner Familie, die mich über all die Jahre meiner Ausbildung und meiner Promotionszeit in meinem Weg unterstützt und stets bestärkt hat. Zuletzt danke ich Lars, der mich durch die Höhen und Tiefen dieser intensiven Zeit be- gleitet hat. Vielen Dank für deine Geduld und dein Verständnis. Stuttgart, im September 2023 Franziska Kern II Inhaltsverzeichnis III Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ........................................................................................................ III Abkürzungsverzeichnis .............................................................................................. VI Formelzeichen ........................................................................................................... VIII Abstract ........................................................................................................................ IX 1 Einleitung .................................................................................................................. 1 1.1 Motivation und Problemstellung .......................................................................... 1 1.2 Zielsetzung und Abgrenzung der Arbeit .............................................................. 3 1.3 Struktur der Arbeit ............................................................................................... 5 2 Stand der Forschung ............................................................................................... 7 2.1 Produktgestaltung im Technischen Design ......................................................... 7 2.1.1 Definition der Produktgestalt .................................................................... 7 2.1.2 Nutzerzentrierte Produktgestaltung .......................................................... 9 2.2 Visuelle Wahrnehmung ..................................................................................... 10 2.2.1 Grundlagen des menschlichen Sehens ................................................. 10 2.2.2 Physiologische und psychologische Aspekte ......................................... 13 2.2.3 Bedeutung für die Produktwahrnehmung ............................................... 15 2.3 Einflussgröße Zeit ............................................................................................. 15 2.3.1 Produkttrends und Designzyklen ........................................................... 17 2.3.2 Designobsoleszenz ................................................................................ 19 2.3.3 Designalter ............................................................................................. 23 3 Produktbeispiel Automobil .................................................................................... 25 3.1 Begründung der Produktwahl ........................................................................... 25 3.1.1 Gesellschaftliche Bedeutung des Automobils ........................................ 26 3.1.2 Technologisches und gestalterisches Potenzial ..................................... 28 3.2 Wissenschaftliche Untersuchungen zum Fahrzeugexterieur ............................ 30 3.2.1 Strukturierung der Fahrzeuggestalt ........................................................ 30 3.2.2 Wahrnehmung der Fahrzeuggestalt ....................................................... 34 3.2.3 Wahrnehmung von Designalter .............................................................. 37 3.3 Weitergehender Forschungsbedarf ................................................................... 41 4 Versuchsplanung ................................................................................................... 43 4.1 Hypothesen ....................................................................................................... 43 4.1.1 Gestaltung des Designalters .................................................................. 43 IV 4.1.2 Vergleich von Wahrnehmung und Konfiguration .................................... 44 4.1.3 Einfluss von Designelementen ............................................................... 45 4.2 Versuchsmethodik ............................................................................................. 46 4.2.1 Conjoint-Analyse .................................................................................... 47 4.2.1.1 Theoretische Grundlagen ....................................................... 47 4.2.1.2 Anwendungsbeispiele ............................................................. 54 4.2.1.3 Adaptierung für das Designalter ............................................. 56 4.2.2 Produktkonfigurator ................................................................................ 58 4.2.2.1 Einsatz von Produktkonfiguratoren ......................................... 58 4.2.2.2 Entwicklung eines Fahrzeugkonfigurators .............................. 59 4.2.3 Virtuelle Versuchsumgebung ................................................................. 69 4.2.3.1 Technische Voraussetzungen und Möglichkeiten .................. 69 4.2.3.2 Aufbau der Versuchsumgebung mit Unreal Engine ................ 70 4.2.3.3 Implementierung des Fahrzeugkonfigurators ......................... 73 4.2.4 Probandenbeurteilung ............................................................................ 80 4.2.4.1 Demografischer Fragebogen .................................................. 80 4.2.4.2 Räumliches Wahrnehmungsvermögen ................................... 81 5 Studie zum Designalter .......................................................................................... 83 5.1 Versuchsdurchführung ...................................................................................... 83 5.1.1 Versuchsaufbau und Ablauf ................................................................... 83 5.1.2 Stichprobe .............................................................................................. 85 5.2 Charakterisierung des Probandenkollektivs ...................................................... 86 5.2.1 Demografie ............................................................................................. 86 5.2.2 Vermögen und Kompetenzen ................................................................. 86 6 Ergebnisse .............................................................................................................. 89 6.1 Auswertung der Conjoint-Analyse ..................................................................... 91 6.1.1 Aggregierte Teilnutzen ........................................................................... 91 6.1.2 Individuelle Teilnutzen ............................................................................ 95 6.1.3 Normierung der Teilnutzen ..................................................................... 95 6.2 Auswertung des Konfiguratorexperiments ........................................................ 97 6.2.1 Datenbereinigung ................................................................................... 97 6.2.2 Häufigkeitsverteilungen .......................................................................... 97 6.3 Ergebnisse zur Gestaltung des Designalters .................................................... 99 6.3.1 Vergleich der Designalter ....................................................................... 99 6.3.2 Interpretationsraum zum Kühlergrill ..................................................... 102 6.3.3 Statistische Auswertung zur Zeiteinschätzung und Altersdifferenz ...... 104 6.4 Ergebnisse zur Wahrnehmung und Konfiguration des Designalters ............... 107 6.4.1 Clusteranalyse ..................................................................................... 107 6.4.1.1 Wahrnehmungscluster .......................................................... 107 Inhaltsverzeichnis V 6.4.1.2 Konfigurationscluster ............................................................. 112 6.4.2 Statistische Auswertung der Cluster .................................................... 113 6.5 Ergebnisse zum Einfluss von Designelementen ............................................. 115 6.5.1 Vorüberlegungen ................................................................................. 115 6.5.2 Statistische Auswertung ....................................................................... 117 6.6 Zusammenfassung ......................................................................................... 125 7 Interpretation der Studienergebnisse und Fazit ................................................ 126 7.1 Interpretationsgrundlage ................................................................................. 126 7.2 Anwendung im Fahrzeugdesign...................................................................... 127 7.3 Bedeutung für das Produktdesign ................................................................... 130 8 Zusammenfassung ............................................................................................... 131 9 Ausblick ................................................................................................................ 133 Literaturverzeichnis .................................................................................................. 137 Anhang ....................................................................................................................... 157 A1 Reizmuster des Conjoint-Fragebogens ........................................................... 157 A2 Fahrzeugkonfigurator ...................................................................................... 158 A3 Demografischer Fragebogen .......................................................................... 159 A4 Häufigkeitsverteilung des Konfiguratorexperiments ........................................ 163 A5 Dendrogramme aus hierarchischer Clusteranalyse nach Ward ...................... 164 A6 Demografie der Wahrnehmungscluster .......................................................... 165 Lebenslauf .................................................................................................................. 171 VI Abkürzungsverzeichnis Abk. Erläuterung AA Additiv-additiver Fahrzeugaufbau AC Additiv-kubischer Fahrzeugaufbau ADAC Allgemeiner Deutsche Automobil-Club e.V. AI Additiv-integrativer Fahrzeugaufbau APA American Psychological Association AR Augmented Reality AV Abhängige Variable AVP Automobile Visualization Plattform B2B Business to Business B2C Business to Consumer BEV Battery Electric Vehicle BMW Bayrische Motorenwerke CAD Computer Aided Design CAS Computer Aided Selling CPP C++ Quelltextdatei CPQ Configure Price Quote Ebd. Ebenda FZV Fahrzeug-Zulassungsverordnung HCI Human Computer Interaction HUD Head-Up-Display IAA Internationale Automobil-Ausstellung IC Integrativ-kubischer Fahrzeugaufbau II Integrativ-integrativer Fahrzeugaufbau IQ Intelligenzquotient ISO Internationale Organisation für Normung Inhaltsverzeichnis VII KBA Kraftfahrt-Bundesamt KBAG Gesetz über die Errichtung eines Kraftfahrt-Bundesamtes LED Light Emitting Diode M Mittelwert MAYA Most advanced, yet acceptable MMI Mensch-Maschine-Interaktion N Stichprobenumfang NAIAS North American International Auto Show nm Nanometer OLS Ordinary Least Square PCS Product Configuration System PEP Produktentwicklungsprozess RBC Recognition by Components SD Standardabweichung Sig. Signifikanz SPSS Statistical Package for the Social Sciences Std. Standard StVZO Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung UCD User Centered Design UE Unreal Engine UV Unabhängige Variable VL Versuchsleiter VR Virtual Reality VW Volkswagen WTS Wiener Testsystem ZFZR Zentrales Fahrzeugregister VIII Formelzeichen Symbol Einheit Erläuterung ß0 [a] Basisnutzen ßjm [a] Teilnutzenwert für Ausprägung m von Merkmal j 𝛽 [a] minimaler Teilnutzenwert von Merkmal j ηp2 partielles Eta-Quadrat M Anzahl der Ausprägungen von Merkmal j p Wahrscheinlichkeit Ûk [a] geschätzter Gesamtnutzenwert Uk [a] beobachteter Gesamtnutzenwert (aus Probandenbewertungen) V Cramers V 𝑤 [%] Relative Wichtigkeit des Merkmals j xjm Dummyvariable: 1, falls das Merkmal j in Ausprägung m vorliegt, andernfalls 0 χ2 Chi-Quadrat yk [a] geschätzter Gesamtnutzenwert für das Reizmuster k Hinweis für die Leserschaft Der Verweis auf Primärliteratur erfolgt innerhalb des fortlaufenden Texts in eckigen Klam- mern, wobei sich Kurzbelege am Ende eines Absatzes auf den gesamten Absatz bezie- hen. Sekundärliteratur ist durch runde Klammern bzw. einen kursiven Schriftschnitt ge- kennzeichnet. Die vollständigen Quellenangaben finden sich im Literaturverzeichnis. Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird diese Arbeit nicht ausdrücklich in ge- schlechtsspezifische Personenbezeichnungen differenziert. Die in dieser Arbeit verwen- deten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter. Abstract IX Abstract The design age describes the temporal classification that a product receives based on its external appearance. Previous studies have shown that this time stamp can be perceived by observers. The present work is dedicated to the question of whether the design age can also be actively shaped and which factors affect the designer and the product. The solution of this task requires the successful handling of two essential elements: A suitable experi- mental environment must be created for researching the design age, and data on the design age of exemplary products must be collected, analysed and evaluated. In Chapter 2, the basics of product gestalt in industrial design engineering, the functioning of visual perception and the influence of time are presented. Time influences products in three possible ways. In addition to design age, there are design obsolescence and design cycles (see figure 1). Obsolescence effects make products appear outdated and reduce their attractiveness. This can lead to the termination of use despite full functionality and trigger the purchase of a new product. Design cycles set the pace at which products change. The extent of this depends strongly on the product category. For product renewal rates, there are extreme examples in the textile industry or in architecture. Figure 1: Design age (A), design obsolescence (B) and design cycles (C) as impact of time on product design For the research of the design age, a product with moderate trend dynamics and a justi- fiable resilience to obsolescence is sought. Chapter 3 sets out the suitability of the auto- mobile and gives a general overview of user-centered research on vehicle exteriors. This includes previous studies on automotive design age and the resulting need for further research. X Abstract Building on this, the fourth chapter is devoted to the design of experiments. The research questions are structured into three hypothesis complexes, which are to be investigated with the help of a dual research approach. According to the basic scheme of human- product interaction, the product perception of the participants is recorded with a conjoint analysis, while their designing performance is tracked in a configuration experiment. In addition, demographic data is collected and spatial perception is tested. A vehicle config- urator is implemented with the Unreal Engine and allows the variation of six concise de- sign features on the automobile: layout, radiator grille and radiator inlay, headlights, bumper and rims. The participants move through a virtual test environment in the first- person perspective and manipulate the vehicle design in order to create specific design ages. A detailed description of the experimental setup can be found in chapter 5. In addition to the characterisation of the test group, the assessment of the collected study data is ex- plained. The sixth chapter tests the hypothesis complexes using the findings from the combination of conjoint analysis and the configurator experiment. This includes the calculation of the aggregated, individual and standardised part worth utilities from the conjoint analysis. These values provide information about the perceptual preferences of the participants. The data from the configuration experiment are checked for plausibility, adjusted and compiled into frequency distributions. The results show that the participants are able to adequately configure the vehicles ac- cording to the given design ages. The age estimates of the configured vehicles as well as the age differences between two design ages show significant differences. For further interpretation, the participants are divided into clusters according to their per- ceptual preferences and their configuration activity. It becomes apparent that the affilia- tions to the clusters correlates with each other. People who perceive the design age in a certain way also have similar configuration results. No significant meaningful demo- graphic correlations are found. However, the sample is comparatively young, has above- average qualifications and lives mostly in the Stuttgart area, which limits the predictive power. Deeper insights are gained into the design elements under examination. These include the hierarchy among each other on the basis of relative importance and the ability of individual design elements to distinguish specific design ages with their respective char- acteristics. The headlights stood out in particular as they can distinguish all design ages from each other. The findings are verified by statistical methods. Abstract XI The interpretation of the results in chapter 7 reveals the potential for application in vehicle design and the significance for product design. For example, it could be beneficial to adapt future product development or model maintenance measures according to the de- sign age perception in order to act in a resource-efficient manner. While the headlights, due to their omnipotence at altering the temporal perception in every desired direction, are already set as the starting point for shaping the design age of a car, other design elements may respond well with certain customer groups or car types. The rims seem to have a limited effect in the overall population, but strongly influence the perception of a small group of enthusiasts. The even less notable radiator grille and radi- ator inlay could thrive in future car concepts as the observers’ expectations evolve with a changing vehicle fleet. As the technical necessity for radiators diminishes in BEVs, the car front opens up for new design impulses. The design age may be used to create an appropriate temporal context while maintaining the reference to previous product gener- ations. Chapter 8 summarises the previous chapters and the thesis is completed with an outlook in chapter 9. XII Abstract Einleitung 1 1 Einleitung 1.1 Motivation und Problemstellung Wenn vom Zeitgeist [KLOSE, 1991, S. 27] oder vom Geschmack einer Zeit („flavour of an era“ [DOWLEN, 2013, S. 186]) im Kontext von Produktdesign gesprochen wird, geht es um das Designalter. Jedes Industrieprodukt trägt einen individuellen Zeitstempel in seiner Gestalt, aufgeprägt durch die zeitspezifischen Designentscheidungen während der Pro- duktentwicklung. Heimann und Schütz sehen diese Kultur- und Zeitgeistdimension als eigenständige Wirkebene des Designs an [HEIMANN UND SCHÜTZ, 2020, S. 110]. Werden die einmal entworfenen Produkte in Serie fortlaufend produziert und über den rentablen Zeitraum verkauft, kann das Designalter über Jahre konserviert werden. Vorausgegangene Untersuchungen konnten belegen, dass Menschen in der Lage sind, das Designalter wahrzunehmen und Produkte entsprechend ihrer chronologischen Rei- henfolge zu ordnen (u. a. [KERN UND MAIER, 2020], [KIESSLING ET AL., 2021]). Diese Fähig- keit kann in Abbildung 1.1 am Beispiel des VW T1 Samba von 1950 und dem 72 Jahre später in den Markt eingeführten VW ID.Buzz nachvollzogen werden. Trotz identischer Farbgebung und Darstellungsweise ist der Unterschied im Designalter offensichtlich. Abbildung 1.1: VW T1 Samba (1950) und VW ID.Buzz (2022) [Volkswagen Newsroom, 2017] 2 Einleitung Wenn Designfreeze und Markteinführung weit auseinanderliegen oder das Produkt ab- sehbar über einen langen Zeitraum produziert werden soll, resultieren daraus neue Her- ausforderungen für die zeitkohärente Produktgestaltung. Im ersten Fall muss das Produkt die sich ändernden Ansprüche an das Design, die innerhalb dieser Zeitspanne entstehen, kompensieren können, damit es nicht bereits beim Markteintritt als veraltet wahrgenom- men wird. Dieser Veralterungseffekt kann ebenfalls innerhalb langer Produktionszeit- räume auftreten. Ein Generationswechsel verursacht dann zusätzliches Konfliktpotenzial, wenn Kunden im kritischen Zeitfenster die letzten „alten Produkte“ und die ersten Nach- folgemodelle erwerben können. Neben den bekannten Hürden stellt das Designalter so- mit eine weitere Ursache dar, warum ein Produkt im Wettbewerb unterliegen kann. Im Kontext des Designalters definiert Dowlen drei Gruppen von zeitlich unpassenden Produkten: Produkte, die in jeder Zeit deplatziert wären, und jene Produkte, die zu früh oder zu spät auf den Markt gekommen sind. Hierbei ist zu betonen, dass es sich bei seinen Untersuchungen um Formbetrachtungen handelt, unabhängig vom zeitlich be- dingten technologischen Fortschritt. [DOWLEN, 2013, S. 177] Um dem zeitlichen Dilemma zu entgehen, gibt es bereits verschiedene Lösungsansätze. In der Automobilindustrie ist es beispielsweise üblich, mit Modellüberarbeitungen, den sogenannten Facelifts, Modelle circa vier Jahre nach Markteinführung vorrangig formal- ästhetisch zu modernisieren. In anderen Bereichen wie etwa der Möbelbranche wird auf minimalistische Formen und zeitloses Design gesetzt, um die Aktualität der Produkte zu gewährleisten. Ein weiterer Ansatz ist die fortwährende Erneuerung des Produktportfo- lios, wie sie bei Unterhaltungselektronik zu beobachten ist. Doch nicht jeder Hersteller kann auf diese Strategien zurückgreifen und alternativ alle Produkte so futuristisch wie möglich zu gestalten ist nicht zielführend. Schon Loewy im- plizierte 1951 mit seiner Aussage „Most advanced, yet acceptable“ eine Gestaltungs- grenze für neue Produkte: Das MAYA-Prinzip verspricht ein erfolgreiches Design und eine hohe Nutzerakzeptanz, wenn eine Balance aus Neuheit und Vertrautheit bewerk- stelligt werden kann. [HEKKERT ET AL., 2003, S. 122] Es stellt sich daher die Frage, wie mit dem Designalter weiter zu verfahren ist. Als Teil- aspekt der allgemeinen Produktwahrnehmung hat das Designalter Einfluss auf alle in- dustriellen Produkte. Für den Umgang mit dem Designalter stehen bisher allerdings nur Insellösungen wie die oben genannten Ansätze zur Verfügung. Dieses Forschungsgebiet verspricht demnach einen breiten Anwendungsbereich mit geringer Erschließung. Um Produkte zukünftig bewusst zeitkohärent zu gestalten, gilt es das Designalter und seine Effekte weitergehend zu erforschen. Einleitung 3 1.2 Zielsetzung und Abgrenzung der Arbeit Der Forschungsfokus dieser Arbeit liegt auf dem Designalter mit den Zielen, den beste- henden Wissensstand zu erweitern, ein Fundament für zukünftige Untersuchungen in diesem Gebiet zu legen und das Gestaltungspotenzial des Designalters zu eruieren. Dazu zählt unter anderem die Ergründung der Frage, ob das Designalter eine freie Ge- staltungsgröße im Produktentwicklungsprozess (PEP) darstellt. Diese Fragestellung lässt sich unter qualitativen und quantitativen Aspekten betrachten. Im Sinne der qualitativen Beurteilung des Designalters im PEP wird lediglich die prinzipielle Möglichkeit der be- wussten und zielgerichteten Gestaltung geprüft. Sollte sich diese Annahme bewahrhei- ten, kann darauf aufbauend eine quantitative Analyse erfolgen, in welchem Maße und mit welchen Mitteln das Designalter auslegbar ist. Bei der Überlegung, wie ein solcher Forschungsansatz in der Praxis realisiert werden kann, kommt man unweigerlich zu der Erkenntnis, dass eine rein retrospektive Betrach- tung diesem Thema nicht gerecht wird. Bekannte kognitive Effekte wie der Survivorship- Bias würden bei der Beurteilung vergangener Produktportfolios marktwirtschaftlich erfolg- reiche Produkte übervorteilen. Ein weiteres Risiko ebendieser Best-Practice-Beispiele stellt die heutige Verfügbarkeit von Informationen dar. Es ist davon auszugehen, dass diese Produkte und ihre Werbemittel sorgfältiger dokumentiert wurden und überproporti- onal im Datenmaterial vertreten sind. Eine wertfreie und unverzerrte Beurteilung früherer Produkte kann demnach nicht sicher gewährleistet werden. Um das Designalter und seine Gestaltbarkeit zu erforschen, kommt man daher nicht um- hin, die Produktgestaltung in einer Studiensituation zu simulieren. Daraus ergeben sich zwei grundlegende Aufgabenkomplexe. Zum einen muss ein geeignetes Versuchssetting entwickelt werden, das die Gestaltung des Designalters an einem beispielhaften Produkt erlaubt. Zum anderen ist eine Studie durchzuführen, in der die Teilnehmenden eigenstän- dig vergangene und zukünftige Designalter entwerfen. Als Produktbeispiel für den Versuch wird das Automobil gewählt. Ziel ist es, nach Ab- schluss der Untersuchung Aussagen zum Gestaltungspotenzial mittels des Designalters am Fahrzeug treffen zu können. Die Herausforderung in der Auswertung der Probandenstudie besteht darin, eine geeig- nete Bewertungsgrundlage zu definieren. Da bisher keine objektiven Maßstäbe für das Designalter existieren, wird auf die Erkenntnisse aus früheren Untersuchungen zurück- gegriffen und die Wahrnehmung der Probanden zur Beurteilung ihrer eigenen Entwürfe herangezogen. Sie sollen zum Maßstab ihrer selbst werden und ihre Entwurfstätigkeit evaluieren. 4 Einleitung In diesem Forschungsvorhaben wird demnach ein dualer Methodenansatz implementiert. Dafür wird mithilfe einer präferenzmessenden Methode für jeden Probanden die individu- elle Wahrnehmung des Designalters analysiert. Die Gestaltungsaufgaben zum Designal- ter werden von den Studienteilnehmern in einer Konfiguratorumgebung bearbeitet. Die methodische Zusammenführung der Erkenntnisse erlaubt es, die Gestaltung auf Basis der Wahrnehmung zu evaluieren, d. h. zu beurteilen, ob die Probanden das Designalter entsprechend ihrer eigenen Ansprüche formen konnten. Die anschließenden Betrachtungen widmen sich demografischen Auffälligkeiten des Pro- bandenkollektivs im Hinblick auf den Gestaltungserfolg sowie die spezielle Eignung ein- zelner Designelemente zur Beeinflussung des Designalters. Das Designalter bietet aufgrund der Vielfalt an Produkten und Betrachtungszeiträumen extensive Forschungsoptionen, sodass eine gewisse Limitation und Abgrenzung inner- halb dieser Thesis sinnvoll erscheint. Wenngleich eine Längsschnittstudie zum Design- alter interessante Ergebnisse verspricht, kann ein solches nicht in angemessener Art und Weise innerhalb einer einzigen Dissertation erschlossen werden. Das hier angewendete Verfahren stellt daher eine klassische Querschnittsstudie dar. In der Mensch-Produkt-Interaktion resultieren aus den Prozessen der Wahrnehmung und kognitiven Verarbeitung weitere Reaktionen des Nutzers. Diese Konsequenzen der Wahrnehmung, wie die ästhetische Bewertung oder die Verhaltensanpassung gegenüber dem Produkt liegen außerhalb des Betrachtungsrahmens. Auch die User Experience und Usability sind damit ausgeschlossen. Zu guter Letzt werden die Untersuchungen zum Designalter im Bereich der Ingenieurwis- senschaften betrieben und in entsprechender Manier ausgewertet. Zwar können auch andere fachliche Disziplinen Interesse und Kompetenzen am Designalter zeigen, wie bei- spielsweise die Wahrnehmungspsychologie oder das Marketing. Ihre Perspektiven wer- den jedoch nur eingeschränkt berücksichtigt. Einleitung 5 1.3 Struktur der Arbeit Die Erforschung des Designalters in dieser Arbeit ist in acht inhaltliche Abschnitte geglie- dert, die sich der Theorie, der Empirie oder der Konklusion widmen (siehe Abbildung 1.2). Der Stand der Forschung in Kapitel Zwei erläutert die Grundlagen der anschließenden Betrachtungen. Dazu zählen die Produktgestaltung im Technischen Design, die Funkti- onsweise der visuellen Wahrnehmung beim Menschen und der Einfluss der Zeit auf das Produktdesign. Neben dem Designalter, das einen zeitlichen Zustand beschreibt, können Produkte zeitlichen Veränderungen und einem zeitlichen Rhythmus unterliegen. Abbildung 1.2: Struktur der Arbeit Im dritten Kapitel geht es darum, ein geeignetes Produkt für die Erforschung des Design- alters zu identifizieren. In einer Begründung zur Produktwahl wird dargelegt, warum sich das Automobil für diese Aufgabe empfiehlt. Anschließend wird der wissenschaftliche For- schungsstand zur Wahrnehmung der Fahrzeuggestalt im Allgemeinen und speziell bezo- gen auf das Designalter erörtert. Aus den vorangegangenen Betrachtungen und der Ziel- definition dieser Arbeit kann der weitere Forschungsbedarf abgeleitet werden. Um diese Forschungslücke zu schließen, widmet sich das vierte Kapitel der Versuchs- planung. Arbeitsgrundlage sind drei Hypothesenkomplexe, die auf die Gestaltbarkeit des 6 Einleitung Designalters, demografische Einflussfaktoren und die Bedeutung einzelner Designele- mente abzielen. Die Versuchsmethodik für eine Probandenstudie beinhaltet eine Con- joint-Analyse, die Entwicklung eines automobilen Produktkonfigurators in einer virtuellen Versuchsumgebung und Methoden zur Beurteilung der Teilnehmenden. Im fünften Kapitel werden die Durchführung und die Auswertung der Studie beschrieben. Das Probandenkollektiv wird bezüglich seiner Demografie und Kompetenzen charakteri- siert sowie Eigenheiten ebendieser Stichprobe vorgestellt. Es folgt die Auswertung der Conjoint-Analyse und des Konfiguratorexperiments im sechs- ten Kapitel. Dieses führt das erhobene Datenmaterial aus den einzelnen Versuchsteilen zusammen und wertet die Ergebnisse entsprechend der zuvor formulierten Hypothesen statistisch aus. Diese Ergebnisse erlauben es, Aussagen zur Gestaltbarkeit des Design- alters, zu seiner Wahrnehmung und Konfiguration sowie dem Einfluss der im Versuch eingesetzten Designelemente zu treffen. Im anschließenden siebten Kapitel werden die Erkenntnisse hinsichtlich ihrer allgemei- nen Bedeutung für das Produktdesign und ihrem Anwendungspotenzial im Fahrzeugde- sign im Speziellen diskutiert. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick in Kapitel Acht und Neun. Stand der Forschung 7 2 Stand der Forschung In diesem Kapitel werden die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit beleuchtet. Dazu zählt die Produktgestaltung im Technischen Design, die visuelle Wahrnehmung und die Einflussgröße Zeit. 2.1 Produktgestaltung im Technischen Design Das Technische Design zeichnet sich durch seine Schnittstellenkompetenz zwischen klassischem Maschinenbau und Industriedesign aus. Diese ermöglicht den Praktizieren- den ein gleichzeitig methodisches als auch kreatives Vorgehen. Dabei steht der Mensch stets im Zentrum der Produktgestaltung. 2.1.1 Definition der Produktgestalt Für die Produktgestalt gibt es zahlreiche sinnverwandte Begriffe im Deutschen und im Englischen wie z. B. das Produktdesign, die Formgestalt, product form oder product shape. Je nachdem aus welchem Blickwinkel die Forschung an das Produkt herantritt, werden die Bezeichnungen und ihre Implikationen angepasst. Creusen und Schoorman sprechen beispielsweise von product appearance, um ihre Fokussierung auf die für Kun- den sichtbaren Teile zu verdeutlichen [CREUSEN UND SCHOORMANS, 2005, S. 64]. Diese Arbeit orientiert sich an Seegers recht allgemeinen Begriffsbestimmung bzw. ihrer erweiterten Form. In seinem Buch „Design technischer Produkte“ schreibt er: „Unter einer Produktgestalt (Abkürzung „Gestalt“) wird im folgenden ein dreidimensionales und mate- riales Gebilde verstanden, das beschriftet, farbig, geformt und einen Aufbau besitzt.“ [SEEGER, 2005, S. 47]. Diese Definition wurde vom VDI/VDID-Fachausschusses „Industriedesign“ aufgegriffen und um den Aspekt der Wahrnehmung erweitert. Die VDID-Norm 2424 beschreibt die Gestalt als die „äußere Form von Gegenständen, bestehend aus den Teilgestalten Auf- bau, Form, Farbe, Grafik und Oberfläche und ihrer olfaktorischen, haptischen/ taktilen, visuellen, auditiven und thermisch wahrnehmbaren Eigenschaften“ [VDI/VDID 2424:2023, S. 8]. Aus diesen Definitionen geht hervor, dass die Produktgestalt in einzelne Teilgestalten aufgeteilt werden kann. Dies wird in Abbildung 2.1 visualisiert. Üblicherweise erfolgt im Produktentwicklungsprozess die Festlegung der einzelnen Teilgestalten in der dargestell- ten Reihenfolge beginnend beim Aufbau. Ausnahmen kann es allerdings geben, wenn beispielsweise die Produktfarbpalette oder das Grafikdesign bereits durch das Corporate 8 Stand der Forschung Design des Herstellers reguliert sind. Der Abstraktionsgrad der Produktgestalt sinkt aus- gehend von der Definition des Aufbaus, der Form, der Farbe und der Grafik, während das finale Produkt konkretisiert wird. [HOLDER UND MAIER, 2021, S. 14] Abbildung 2.1: Teilgestalten am Automobil in Anlehnung an [HOLDER UND MAIER, 2021, S. 14] Creusen und Schoormans leiten aus einer Literaturrecherche sechs Rollen für die Pro- duktgestalt ab. Die Gestalt ist für die Kommunikation von ästhetischen, symbolischen, funktionalen und ergonomischen Informationen verantwortlich, hilft bei der Kategorisie- rung und soll Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Da die Rollen widersprüchliche Anforde- rungen an das Design stellen können, müssen im Gestaltungsprozess gegebenenfalls Abwägungen getroffen werden. Die Autoren empfehlen, sich an dem Wert zu orientieren, der von der Zielgruppe des Produktes präferiert wird. [CREUSEN UND SCHOORMANS, 2005, S. 75] Die Auseinandersetzung mit potenziellen Nutzern und ihren Ansprüchen und Bedürfnis- sen ist Teil einer nutzerzentrierten Produktgestaltung. Stand der Forschung 9 2.1.2 Nutzerzentrierte Produktgestaltung Von nutzerzentrierter Produktgestaltung oder User Centered Design (UCD) wird dann gesprochen, wenn Nutzer und ihre Charakteristika im Entwurfsprozess berücksichtigt werden. Der Fachausschuss „Industriedesign“ empfiehlt „[…] Produkte zu gestalten, so- dass sie im Kontext ihres jeweiligen Gebrauchs von verschiedenen Nutzern und Nutze- rinnen bestmöglich genutzt werden können und eine vorgesehene Wirkung entfalten.“ [VDI/VDID 2424:2023, S. 12]. Die Beziehung zwischen Nutzer und Produkt entsteht in einem vielschichtigen Prozess, der vorrangig unter dem Überbegriff Mensch-Maschine-Interaktion (MMI) erforscht wird. Dabei bilden Produktgruppen mit starken spezifischen Eigenschaften eigene For- schungszweige wie etwa Human Computer Interaction (HCI). Die wesentlichen Bestandteile der MMI sind in Abbildung 2.2 im Basisschema nach See- ger dargestellt, der von Mensch-Produkt-Beziehung spricht [SEEGER, 2005, S. 22]. Abbildung 2.2: Basisschema der Mensch-Produkt-Beziehung in Anlehnung an [SEEGER, 2005, S. 22] und [SCHMID UND MAIER, 2017, S. 57] Das Produkt mit seinen Teilgestalten steht den Menschen gegenüber, die diese wahr- nehmen. Die wahrgenommenen Reize werden kognitiv verarbeitet und führen zur Erken- nung der Produkteigenschaften und einer Reaktion des Menschen. Mögliche Verhaltens- reaktion sind Bezeichnung, Bewertung, Betätigung oder Benutzung. Die Mensch-Produkt-Beziehung ist in einen Gebrauchskontext und die Umwelt eingebet- tet, was zu Wechselwirkungen führen kann. Die Produktgestalt muss den äußeren Anfor- derungen seiner Umwelt gerecht werden wie beispielsweise Fertigungstoleranzen. 10 Stand der Forschung Ein weiteres Beispiel für Wechselwirkungen sind Störgrößen wie etwa Beleuchtung oder Betrachtungswinkel, welche u. a. die visuelle Wahrnehmung beeinflussen können. Auf den Themenkomplex der Wahrnehmung wird daher im nächsten Kapitel eingegangen. 2.2 Visuelle Wahrnehmung Bratfisch et al. definieren die visuelle Wahrnehmung „als die Fähigkeit Farben, Formen, Größen, Richtung, Schiefe von Linien, Abstände, Bewegungen, Geschwindigkeiten, Lichtstärke und Kontraste auffassen zu können.“ [BRATFISCH ET AL., 2018] Wie im Basisschema der Mensch-Maschine-Interaktion erkennbar, leitet die visuelle Wahrnehmung einen kognitiven Verarbeitungsprozess in Form der Erkennung ein, der eine entsprechende Verhaltensreaktion induziert. Dieses Kapitel beleuchtet die Grundla- gen des menschlichen Sehens, die damit verbundenen psychologischen und physiologi- schen Aspekte sowie die Bedeutung für die Produktwahrnehmung. 2.2.1 Grundlagen des menschlichen Sehens Der Prozess des Sehens wird in drei Abschnitten betrachtet, die sich auf das zu sehende Objekt, das Auge als optisches Sinnesorgan und die neuronale Verarbeitung im Gehirn konzentrieren (siehe Abbildung 2.3). Abbildung 2.3: Menschliches Sehen, eigene Darstellung in Anlehnung an [EYSEL, 2007] Objektstrahlung Um für den Menschen sichtbar zu sein, muss ein Objekt Licht bzw. elektromagnetische Strahlung im Bereich von 400 – 700 nm reflektieren oder emittieren. Der Sinneseindruck entsteht aus dem Produkt von Beleuchtung und Reflektanz. [KARNATH UND THIER, 2006, S. 34] Ein klassisches Beispiel ist ein blaues Auto, das alle Wellenlängen adsorbiert und nur den Blau-Bereich reflektiert. Nassau beschäftigt sich mit den chemischen und physikali- schen Effekten rund um die Adsorption und der von Objekten ausgehende Strahlung. Die fünfzehn Ursachen für Farben lassen sich fünf übergeordneten Prinzipien zuordnen und sind in Tabelle 2.1 aufgeführt. [NASSAU, 2001, S. 30] Stand der Forschung 11 Tabelle 2.1: Ursachen für Farben nach [NASSAU, 2001, S. 30] Vibrationen und einfache Anregung Inkandeszenz Flammen, Lampen, Kohlebogen, Drummondsches Licht Gasanregung Gasentladungslampen, Blitze, Polarlichter, einige Laserarten Vibrationen und Rotation Wasser, Eis, Jod, blaue Gasflamme Übergänge nach der Ligandenfeldtheorie Übergangsmetallverbindungen Türkis, viele Pigmente, einige Fluoreszenzen, Laser, Phosphor Metallische Übergangsverunreinigungen Rubin, Smaragd, Roteisenerz, einige Fluoreszenzen, Laser Übergänge zwischen Molekülorbitalen Organische Verbindungen Die meisten Farbstoffe und biologischen Färbungen, einige Fluoreszen- zen und Laser Ladungsübergang Blauer Saphir, Magnetit, Lapislazuli, viele Pigmente Übergänge nach dem Energiebändermodell Metalle Kupfer, Silber, Gold, Eisen, Messing, Rubinglas Reine Halbleiter Silizium, Bleiglanz, Zinnober, Diamant Dotierte und aktivierte Halbleiter Blaue und gelbe Diamanten, LEDs, einige Laser, Phosphor Farbzentren Amethyst, Rauchquarz, Wüstenglas, einige Fluoreszenzen, Laser Geometrische und physikalische Optik Dispersive Lichtbrechung, Polarisation, ect. Regenbogen, Halo, Parhelion, Grüner Blitz, „Leuchten“ in Edelsteinen Streuung Blauer Himmel, roter Sonnenuntergang, blauer Mond, Mondstein, Ra- man-Streuung, blaue Augen und einige andere biologische Farben Interferenz Ölteppich, Seifenblasen, Beschichtung auf Kameralinsen, einige biologi- sche Farben Beugung Aureole, Heiligenschein, Beugungsgitter, Opal, einige biologische Farben, die meisten flüssigen Kristalle Reizerfassung Das in das Auge einfallende Licht wird durch den dioptrischen Apparat bestehend aus der Hornhaut, den vorderen und hinteren Augenkammern, der Pupille, der Linse und dem Glaskörper auf die Netzhaut geleitet. Mittels Adaption (u. a. Anpassung der Pupillen- größe) und Akkommodation (Anpassung der Linsenkrümmung) kann auf wechselnden Lichteinfall und Betrachtungsabstände reagiert werden, sodass die Projektion auf der Netzhaut scharf bleibt. In der Netzhaut befinden sich Photorezeptoren, die sogenannten Stäbchen und Zapfen. Sie enthalten Sehfarbstoffe, chemische Verbindungen, die bei Lichtadsorption zerfallen und ein elektrisches Signal erzeugt. Die Signale der einzelnen 12 Stand der Forschung Rezeptorzellen werden in rezeptiven Feldern gebündelt und über Nervenfasern zum Seh- nerv geleitet. Das Auge besitzt circa 120 Millionen Stäbchen, die für das skotopische Sehen bei Nacht verantwortlich sind. Die 6 Millionen Zapfen kommen hauptsächlich tags- über zum Einsatz beim photopischen Sehen. Während die Stäbchen nur Hell-Dunkel- Unterschiede registrieren, können Zapfen zusätzlich auch Farben differenzieren. Ihre spektralen Absorptionsmaxima liegen bei 420 nm, 535 nm und 565 nm. In der Dämme- rung beim mesopischen Sehen ist das Farbsehen eingeschränkt. [EYSEL, 2007, S. 380 ff.] Signalverarbeitung im Gehirn Für die Verarbeitung werden die visuellen Signale über die Sehnerven ins Gehirn geleitet. Das zentrale visuelle System ist retinotop organisiert, d. h. die retinalen Nachbarschafts- verhältnisse bleiben bestehen [EYSEL, 2007, S. 402]. Die primäre Sehrinde im okzipitalen Großhirn wird auch als Area V1 bezeichnet und besitzt einfache, komplexe und hyper- komplexe rezeptive Felder. Diese reagieren auf unterschiedliche Stimuli. Während einfa- che rezeptive Felder schon durch kleine Lichtpunkte angeregt werden können, antworten komplexe und hyperkomplexe rezeptive Felder besonders stark auf Lichtbalken in spezi- fischen räumlichen Orientierungen oder Bewegungsrichtungen. Man spricht deshalb von Orientierungs- und Richtungsspezifität. Nervenzellen im zytochromoxidasereichen Be- reich haben meist keine Orientierungsspezifität, reagieren aber selektiv auf bestimmte Farben und besitzen eine Farbspezifität. [ebd., S. 402 ff.] Von der primären Sehrinde erfolgt die Projektion in angeschlossene Areale im Parietal- lappen über den dorsalen Strom und in den Temporallappen über den ventralen Strom [GOLDSTEIN, 2011, S. 83]. Diese Kortexareale unterscheiden sich hinsichtlich der analy- sierten Objektklassen und Merkmalsdimensionen. So sind im sekundären visuellen Kor- tex, der Area V2, die Gestalterkennung stationärer Reizmuster, Farben, Formen, Bewe- gungen und Tiefe verortet. Area V3 widmet sich der Gestalterkennung kohärent bewegter Objekte und in der Area V4 findet sich die Objekterkennung auf Basis von Oberflächen- farben und Farbkontrasten. Bei Primaten konnten bisher mehr als 30 Großhirnareale mit visuellen oder visuell-motorischen Funktionen identifiziert werden ([EYSEL, 2007, S. 403], [KARNATH UND THIER, 2006, S. 57]). Der Forschungsbedarf in der Neuropsychologie bleibt jedoch hoch und Modellvorstellungen werden kontrovers diskutiert. Einige Erkenntnisse zur Gestaltbildung auf Basis visueller Reize werden im anschließenden Kapitel vorge- stellt. Stand der Forschung 13 2.2.2 Physiologische und psychologische Aspekte Um aus der Gesamtwahrnehmung einzelne Objekte herauszulösen, müssen zusammen- gehörende Bildbereiche als solche erkannt werden. Diese sogenannte Segmentierung erfolgt auf Basis von Merkmalsbindungen, d. h. ähnlicher Farbe, vergleichbarer räumli- cher Nähe oder anderen übereinstimmenden Merkmalskonstellationen. Die physiologischen Mechanismen hinter dem Wahrnehmungsprozess sind schwierig zu erforschen, da, wie zuvor beschrieben, nicht einzelne Neuronen, sondern rezeptive Felder die Verarbeitung der Signale übernehmen. Die Wahrnehmung eines Objektes und seiner Eigenschaften erfolgt demnach in einer Vielzahl von Nervenzellen, rezeptiven Fel- der und kortikalen Areale, die wiederrum prädestinierte Fähigkeiten zur Kodierung auf- weisen. Nach aktueller Lehrmeinung können fragmentierte Objekteigenschaften synchro- nisiert werden, indem parallel auftretende Reize zusammengeführt werden. Aus der zeitlichen Korrelation der neuronalen Signale resultiert ein dynamischer Bindungspro- zess, der die unterschiedlichen Erkenntnisse zu Farbe, Form, Oberfläche und Bewegung des Objekts wieder vereint. [KARNATH UND THIER, 2006, S. 56 ff.] Bei den psychologischen Aspekten der visuellen Wahrnehmung stehen sich Theorien der ganzheitlichen Betrachtung und der prozeduralen Erschließung gegenüber [BLOCH, 1995, S. 19]. Als exemplarische Vertreter dieser konträren Betrachtungsweisen werden im Folgenden die Gestalttheorie und die Geon-Theorie vorgestellt. Aus der Gestalttheorie oder Gestaltpsychologie gehen die Gestaltgesetze hervor. Erste Experimente zur Wahrnehmung der Gestalt fanden bereits zu Beginn des 20. Jahrhun- derts statt. [ERLHOFF, 2008, S. 178] Die Gestaltgesetze oder Gestaltprinzipien beschreiben, wie Einzelelemente und ihre Be- ziehung zueinander wahrgenommen werden. Erlhoff spricht von über 100 nachgewiese- nen Gestaltgesetzen [ebd., S. 179]. Diese Gestaltprinzipien werden von Designschaffen- den bewusst angewendet, um den gewünschten visuellen Eindruck zu erzeugen. In Tabelle 2.2 wird eine kleine Auswahl dieser Regeln vorgestellt und mit Beispielen aus der Automobilindustrie illustriert. Einen alternativen Ansatz zur Erklärung der visuellen Wahrnehmung bietet die Recogni- tion-by-Components (RBC), auch Geon-Theorie genannt. Anders als bei der Gestaltthe- orie wird das Produkt nicht in seiner Gesamtheit wahrgenommen und anschließend wei- ter unterteilt, sondern ausgehend von geometrischen Grundbausteinen zusammengesetzt. Diese Geone differenzieren sich durch ihre Krümmung, Kollinearität, Symmetrie, Parallelität und Koterminierung. Laut Biederman reicht ein Set bestehend aus 14 Stand der Forschung 36 Geonen aus, um jedes beliebige Produkt adäquat zu repräsentieren. Bei einem be- kannten Produkt genügen sogar nur zwei bis drei Geone zur Wiedererkennung. [BIEDER- MAN, 1987, S. 128 ff.] Bloch spricht sich dafür aus, dass beide Wirkmechanismen bei der visuellen Wahrneh- mung zum Tragen kommen. So können Produkte zunächst als Ganzes wahrgenommen und erkannt werden. Anschließend folgt der Betrachter den für ihn salienten Reizen und widmet seine Aufmerksamkeit prägnanten Designelemente. [BLOCH, 1995, S. 19] Tabelle 2.2: Gestaltprinzipien in Anlehnung an [GOLDSTEIN, 2011, S. 108 ff.] Gestaltprinzip Beschreibung Beispiel Prinzip der Prägnanz (Prinzip der Einfachheit, Prinzip der guten Gestalt) Jedes Reizmuster wird so gesehen, dass die resultierende Struktur so einfach wie möglich ist. Audi-Logo aus vier Ringen Prinzip der Ähnlichkeit Ähnliche Dinge erscheinen zu Gruppen ge- ordnet. Geteilte Heckleuchten in Ka- rosserie und Kofferraum- klappe werden als Einheit wahrgenommen Das Prinzip des guten Verlaufs (Prinzip der gestaltgerechten Linienfortsetzung, Prinzip der Fortsetzung) Punkte, die als gerade oder sanft ge- schwungene Linien gesehen werden, wenn man sie verbindet, werden als zusammen- gehörig wahrgenommen. Linien werden tendenziell so gesehen, als folgten sie dem einfachsten Weg. Charakterlinie entsteht op- tisch aus der Formgebung verschiedener Karosserie- teile Prinzip der Nähe Dinge, die sich nahe beieinander befinden, erscheinen als zusammengehörig. Gruppierung von Bedienele- menten am Lenkrad bündeln verwandte Funktionalitäten Prinzip des gemeinsamen Schicksals Dinge, die sich in die gleiche Richtung be- wegen, erscheinen als zusammengehörig. Scheibenwischer-Synchroni- sation Prinzip der Vertrautheit (Prinzip der Bedeutung) Dinge bilden mit größerer Wahrscheinlich- keit Gruppen, wenn die Gruppen vertraut erscheinen oder etwas bedeuten Digitale Fahrzeuganzeigen in Anlehnung an analoge Dreh- zahlmesser Prinzip der gemeinsamen Region Elemente, die innerhalb einer gemeinsa- men Region liegen, werden zusammen- gruppiert. Kühlergrillstrukturen werden unter Überform gebündelt Prinzip der Verbundenheit Verbundene Elemente innerhalb einer Re- gion mit gemeinsamen visuellen Charakte- ristiken wie Helligkeit, Farbe, Textur oder Bewegung werden als Einheit gesehen. Integration der Sonnen- blende in den Dachhimmel Stand der Forschung 15 2.2.3 Bedeutung für die Produktwahrnehmung Das Sehvermögen gilt als wichtigster Sinn der Menschen. Dies spiegelt sich u. a. in der Größe der Gehirnareale wider, die für die visuelle Wahrnehmung und Verarbeitung ver- antwortlich sind, und in der Informationsmenge, die visuelle Rezeptoren bewältigen kön- nen. Während über die Haut circa 400.000 bit/s an Reizen aufgenommen werden, spre- chen Schmidt und Maier bei den Augen von 10 Millionen bit/s. [SCHMID UND MAIER, 2017, S. 57] Diese Dominanz prägt gleichwohl die Produktwahrnehmung. Der Erstkontakt zwischen Produkt und Nutzer ist primär visueller Art, etwa bei einer Begegnung mit dem realen Produkt oder Repräsentationen im Rahmen von Werbemaßnahmen. Dies lässt sich mit dem Basisschema der Mensch-Produkt-Beziehung nachvollziehen. Die visuelle Wahr- nehmung führt zum Erkennen des Produktes und aktiven Nutzung. Erst die Betätigung und Benutzung generiert neue, sekundäre Sinneseindrücke der Haptik oder Akustik, die wiederum wahrgenommen und erkannt werden. Ausnahmen stellen Produkte dar, die z. B. bereits vor der eigentlichen Interaktion selbständig starke akustische Reize aussen- den. Eine Multimodalität, d. h. das Ansprechen verschiedener Wahrnehmungskanäle, kann auch gezielt genutzt werden, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und den Nutzer vor Gefahren zu warnen. [ebd., S. 63] 2.3 Einflussgröße Zeit Die Zeit ist in den Ingenieurswissenschaften ein wichtiger Parameter. Sie dient nicht nur als aktive Versuchsvariable, sondern findet sich auch in fast jeder Formel der Mechanik als Standard-SI-Einheit. Neben den Kosten und der Qualität residiert die Zeit im magi- schen Dreiecks der Produktentwicklung und beeinflusst über die Entwicklungszeit die po- tenzielle Innovationskraft neuer Produkte. Doch die Zeit wirkt auch jenseits ihrer Funktion als Mess- und Prozessgröße. Im Produkt- design sind der zeitliche Zustand eines Produktes, seine Veränderungen und der damit verbundene Rhythmus von Interesse. Diese Formen des zeitlichen Einflusses auf das Produktdesign sind in Abbildung 2.4 schematisch dargestellt und werden im Folgenden näher erläutert. Der zeitliche Zustand wird durch das Designalter abgebildet. Während des Produktent- wicklungsprozesses erhält jedes industriell gefertigte Objekt einen Zeitstempel, der je nach Prägnanz den Zeitgeist seiner Entstehungszeit widerspiegelt. In der kontinuierlichen Produktion bleiben diese zeitlichen Eigenschaften erhalten. In Abbildung 2.4 ist die Ver- vielfältigung und Konservierung der zeitlichen Eigenschaften mit A gekennzeichnet. 16 Stand der Forschung Abbildung 2.4: Zeiteinfluss im Produktdesign in Form von Zustand (A), Veränderung (B) und Rhythmus (C) Die zeitlichen Veränderungen am Einzelprodukt können aus der fortwährenden Einwir- kung von Umweltfaktoren, wie zum Beispiel der UV-Strahlung, aber auch aus dem Ge- brauch resultieren (siehe Abbildung 2.4 B). Verschleiß- und Nutzungsspuren sind typi- sche Merkmale und mögliche Ursachen einer subjektiven Veralterung des Produktdesigns. Veränderte Ansprüche und Erwartungen der Nutzer können ebenfalls eine Designobsoleszenz bedingen. Im schlimmsten Fall wird das Produkt aufgrund man- gelhafter Designqualitäten nicht mehr verwendet, obwohl es technisch noch funktions- tüchtig wäre. Produkttrends fungieren als zeitliche Taktgeber. Ihr Rhythmus ist abhängig von der je- weiligen Produktart. Textilerzeugnisse unterliegen einem schnelleren, saisonal gepräg- ten Lebenszyklus im Vergleich zu Investitionsgütern oder Architekturentwürfen. Aus der Repräsentanz der vorherrschenden Trenderscheinungen und ihrer Repetition resultieren produktspezifischen Designzyklen. So ist in Abbildung 2.4 ein beispielhafter Zyklus von Automobil C dargestellt, das nach der Trendphase von C* wieder an Bedeutung gewinnt. Um Zyklen frühzeitig zu erkennen und bewusst auszunutzen wird Trendforschung betrie- ben. Die Einflussfaktoren der Zeit werden in den nachfolgenden Kapiteln erörtert. Stand der Forschung 17 2.3.1 Produkttrends und Designzyklen Trends haben eine ordnende und leitende Wirkung. Durch die Sammlung verschiedener Designentwürfe unter einem Oberbegriff, werden gestalterische Strömungen zeitlich, per- sonell und objektspezifisch strukturiert. Gleichzeitig gibt ein beginnender Trend für lau- fende Produktentwicklungsprozesse Orientierung und kann Designentscheidungen be- einflussen. Produkttrends Auswirkung und Prägnanz des Trends können stark variieren und finden sich in allen Produktgestalten von Aufbau, Form, Farbe und Grafik wieder. So schreibt Bürdek: „Trends können sich in Farbe und Oberfläche, in Materialien, in Kombinationen von Werk- stoffen oder Ähnlichem niederschlagen. „Trends“ können aber auch zu ganzen Markt- segmenten werden, was man am Beispiel von Fahrzeugen der SUV-Klasse (Sports Utility Vehicles) sehen kann.“ [BÜRDEK, 2005, S. 400]. Schmid-Isler grenzt zusätzlich den „modischen Trend“ ab, der sich beginnend in der Post- moderne vom Dogma „form follows function“ löst und vor allem in den USA zelebriert wird: „Für den wachsenden Absatz wird der modische Trend mitbestimmend, d.h. eine dauernde "Aktualisierung" auch des Produkt-Images, nicht nur die Erneuerung bzw. Ver- feinerung der Produkte-Funktionalität.“ [SCHMID-ISLER, 2007, S. 102] Evans sieht Trends als Anzeichen für einen tieferliegenden Wandel, warnt gleichzeitig aber auch vor kausalen Fehlschlüssen: “A trend by definition […] has already begun – its existence implies that it already has an inclination. A trend is spotted rather than created (Cornish 2004). This can lead to the situation of ‘self-fulfilling prophesy’ where the act of identifying a trend confirms its existence and thus reinforces its direction or tendency.” [EVANS, 2005] Zu bekannten Trends im Industriedesign zählen u. a. das Retro-Design, das Techno-De- sign, das Purismus-Design, das Modernismus-Design, das Dark-World-Design, das Customizing-Design und das Bionic-Design. [MAIER UND SCHMID, 2022, S. 134 ff.] Automobile Produktbeispiele sind in Abbildung 2.5 und Abbildung 2.6 dargestellt. Erstere zeigt das Konzeptfahrzeug „Bionic Car“ von Mercedes-Benz, das sich an der Form eines Kofferfisches orientiert [Mercedes-Benz Group Media, 2008]. 18 Stand der Forschung Abbildung 2.5: Mercedes-Benz Bionic Car [Mercedes-Benz Group Media, 2008] Die zweite Abbildung zeigt das New Beetle Cabriolet als Beispiel für das Retro-Design, welches „bewusst auf Gestaltungselemente früherer Stilrichtungen zurückgreift.“ [MAIER UND SCHMID, 2022, S. 135]. Abbildung 2.6: New Beetle Cabriolet und VW 1200 Cabriolet [Volkswagen Newsroom, 2002] In den letzten Jahren ist der Nachhaltigkeitsgedanke verstärkt in den Fokus der Gestal- tenden getreten. Daraus entstehen neue Trends wie z. B. das Eco-Design. Beim Eco- Redesign wird auf ein Vergleichsprodukt (Referenzprodukt) Bezug genommen, das ent- weder aus der eigenen Produktion, oder aus der eines Konkurrenzunternehmens stammt. Für dieses Produkt sind Markt- und Herstellungsbedingungen bekannt und Ver- besserungspotenziale lassen sich aufgrund der praktischen Erfahrungen mit dem Pro- dukt bereits erkennen. [TISCHNER, 2000] Stand der Forschung 19 Designzyklen Das Wiederauftreten von Trends kann in Designzyklen abgebildet werden. Koppelmann und Küthe leiteten bereits in den 90er Jahren aus der Beobachtung verschiedener Pro- duktbereiche einen eigenen Farbzyklus ab [KOPPELMANN UND KÜTHE, 1987]. Dieser be- ginnt bei Spektralfarben und geht über in die Phase der abgedunkelten Farben, den Braunbereich, die Pastellfarben, den Unbunt-Bereich, den Violett-Bereich und wieder zum Beginn des Zyklus. Angeregt wurde Koppelmann durch Betrachtungen von Christel Darmstadt zur Architektur zwischen 1860 und 1980. Hier wurde ein 15- bis 25-jähriger Rhythmus mit einer starkbunten, schwachbunten, erdigen und unbunten Phase in den Farbkonzepten von Gebäuden ermittelt. [KOPPELMANN, 2001, S. 393] Abshof widmet sich ebenfalls Formpräferenzwellen. In ihrer Arbeit untersucht sie die deutsche Mode zwischen 1900 und 1991 anhand von Mänteln, Kostümen, Hosen bzw. Röcken, Blusen und Kleidern. Aus den Ergebnissen definiert sie Silhouetten-, Formstruk- tur-, Stoff- und Dessinierungstrends und weißt deren Periodizität nach. [ABSHOF, 1992] Ähnliche Betrachtungen existieren auch in anderen Kulturen, wie beispielsweise die Aus- arbeitungen von Kim zur koreanischen Mode zwischen 1967 und 2012. [KIM, 2013] In neuerer Zeit finden sich auch zunehmend Big-Data-Ansätze, die sich mit Trendzyklen beschäftigen. Vor allem im Textildesign sind verlässliche Farbprognosen von Interesse. Die Forschungsansätze zielen daher meist auf eine möglichst präzise Beschreibung des Farbzyklus und die Bestimmung der aktuellen Position im Zyklus ab (u. a. [HSIAO ET AL., 2017], [ZHAO ET AL., 2021]) Beobachtungen aus unterschiedlichen Trendbereichen wie Möbelindustrie [FLETCHER, 19. November 1999] oder Textildesign [WONG ET AL., 2016] deuten auf eine Verkürzung der Zyklen und schneller wandelnde Präferenzen bei den Kunden hin. Diese Beschleu- nigung kann auch von Firmen bewusst vorangetrieben werden. Durch vorhersehbare Markteinführungen neuer Produkte wird den Kunden eine Erwartungshaltung antrainiert. Ein prominentes Beispiel ist Apple mit seiner jährlichen Veröffentlichung einer neuen iPhone-Generation. [PARDO-VICENTE ET AL., 2022, S. 4] Welche Folgen dieser Marktdruck haben kann, wird im nächsten Kapitel betrachtet. 2.3.2 Designobsoleszenz Unter Obsoleszenz versteht man eine Veralterung des Produktes und die daraus resul- tierende Einstellung der Produktnutzung. In seinem 1961 erschienenen Buch „Die große Verschwendung“ (eng. „The Waste Ma- ker“) wirft Packard dem Automobilhersteller General Motors vor, seine Marktposition zu 20 Stand der Forschung missbrauchen und mit jährlich neuen Modellen Modetrends zu seinen Gunsten zu ver- zerren. Kleinere Firmen waren dadurch gezwungen, den formalästhetischen Vorgaben zu folgen oder als unmodisch und veraltet wahrgenommen zu werden. Diese geplante psychologische Obsoleszenz hatte vollkommen unabhängig vom tatsächlichen techni- schen Entwicklungsstand massive Auswirkungen auf die Verkaufszahlen. [PACKARD, 1961, S. 47 ff.] Modetrends sind jedoch nicht die einzige Ursache für Veralterungseffekte. In Tabelle 2.3 werden Obsoleszenzformen aus diversen Quellen vorgestellt und beschrieben. Tabelle 2.3: Obsoleszenzformen von [PACKARD, 1961], [ZALLES-REIBER, 1996], [COOPER, 2004] und [BURNS, 2016] nach [KERN ET AL., 2019] Quelle Obsoleszenzform Beschreibung Beispiel [P AC KA R D , 19 61 ] Funktionell Einführung eines neuen, besse- ren Produktes Düsenantrieb ersetzt Kolbenflug- zeuge Psychologisch Veränderte Mode reduziert Attrak- tivität Jährlich neue Modelle bei General Motors Qualitativ Produkt versagt zu einem geplan- ten Zeitpunkt General Electric verkürzte Brenndauer von Glühlampen [Z AL LE S- R EI BE R , 1 99 6] Ingenieurstechnisch Produkt entspricht nicht mehr dem Stand der Technik Aerodynamische Fahrzeug- karosserie lösen Kutschform ab Gebrauchstechnisch Einführung eines ergonomische- ren Produkts Wegfall von Hardwaretastaturen bei Smartphones Ästhetisch-kulturell Produkt entspricht nicht mehr dem ästhetischen Verständnis Mode Sozial Produkt erfüllt beworbene Sym- bolfunktion nicht mehr Statussymbol Uhr abgelöst vom Smartphone Ökonomisch Neues Produkt mit besserem Preis-Leistungs-Verhältnis Neue Fertigungsverfahren sen- ken Produktionskosten Ökologisch Produkt belastet Umwelt in unnö- tigem Maße FCKW-haltige Kühlmittel [C O O PE R , 2 00 4] Absolut Technische Lebensdauer des Produktes erreicht Lagerschaden Ökonomisch Reparaturkosten höher als Neu- anschaffung Konsumerelektronik Technologisch Veränderung der Funktion, Quali- tät und Effizienz Siehe Packard (1961), „funktio- nell“ Psychologisch Veränderung der wahrgenomme- nen Bedürfnisse Siehe Packard (1961) [B U R N S, 2 01 6] Ästhetisch Style, Fashion des Produktes überholt Trendfarben, Lieblingsfarben Sozial Verändertes gesellschaftliches Bewusstsein Gesundheitsrisiko durch unbe- schichtete Aluminiumtöpfe Ökonomisch Wartung, Reparatur oder Up- grade zu kostenintensiv Möbel Technologisch Technologisch fortschrittlicheres Produkt Computer im Vergleich zur Schreibmaschine Stand der Forschung 21 Zwischen den Autoren finden sich Schnittmengen und Redundanzen. Für eine bessere Übersicht werden die einzelnen Obsoleszenzformen in Abbildung 2.7 grafisch verortet. Abbildung 2.7: Obsoleszenzlandkarte nach [KERN ET AL., 2019] mit Referenzierung auf a)[PACKARD, 1961] b)[ZALLES-REIBER, 1996] c)[COOPER, 2004] d)[BURNS, 2016] Die ordnenden Kriterien in der Abbildung sind die Ursache der Obsoleszenz, aufgetragen auf der Abszisse, und die auf der Ordinate festgehaltene Einflussnahme. Bei der Ursache wird bewertet, ob die Veralterung durch den Kontext, d. h. Konkurrenz- produkte, neue technische Anforderungen, gesellschaftlichen Wandel oder andere äu- ßere Faktoren hervorgerufen wird oder vom Produkt selbst ausgeht. In diesem Fall 22 Stand der Forschung könnte sich beispielsweise die Lieblingsfarbe des Nutzers geändert haben, was eine äs- thetische Obsoleszenz hervorrufen kann oder die Gebrauchstauglichkeit des Produktes ist nicht zufriedenstellend, sodass der Nutzer von einer weiteren Verwendung absieht. Das Kriterium Einflussnahme ermittelt, wer Obsoleszenzeffekte maßgeblich verzögern kann. Der Einfluss des Herstellers oder des Nutzers ist jedoch nicht als absolut zu be- trachten, sondern stellt ein relatives Verhältnis dar. Mit innovativen Produkten vermag der Hersteller beispielsweise bis zu einem gewissen Punkt die technologische Obsoleszenz zurückzudrängen. Der Nutzer kann diese Bemühungen unterstützen, indem er den tech- nologischen Stand über eine entsprechende Zeitspanne akzeptiert. Er sabotiert sie je- doch, wenn er beim ersten technischen Fortschritt auf ein Konkurrenzprodukt wechselt. Einen Sonderfall stellt die absolute, respektive qualitative Obsoleszenz dar. Sie unter- scheidet sich von den anderen Formen dahingehend, dass das Produkt durch einen Schadfall tatsächlich unbrauchbar wird. Im Schaubild ist eine zusätzliche Obsoleszenzform dargestellt, die in Tabelle 2.3 nicht aufgeführt wurde. Die Designobsoleszenz beschreibt die Veralterung, die aufgrund der Produktgestalt hervorgerufen wird. Vorstellbar sind etwa Differenzen zwischen Erwar- tungshaltung und tatsächlicher Produktwahrnehmung oder Probleme an den Schnittstel- len zur ästhetischen oder gebrauchstechnischen Obsoleszenz. Der Fachausschuss „In- dustriedesign“ empfiehlt, bereits im PEP Maßnahmen zu ergreifen. „Durch die Berücksichtigung von Gestaltungsfaktoren, die beispielsweise zur Motivation, Attraktion und Emotionalität des Produkts beitragen, kann Industriedesign eine emotionale Bindung zwischen Nutzer/Nutzerin und Produkt erzeugen. Diese Bindung kann dazu führen, dass Produkte beispielsweise besser „gepflegt“, bei Bedarf repariert und somit länger genutzt werden.“ [VDI/VDID 2424:2023, S. 18 f.] Die Designobsoleszenz kann ebenfalls durch ein unpassendes Designalter ausgelöst werden, auf das im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Stand der Forschung 23 2.3.3 Designalter “Designers design for the future. […] The timescale may vary, often dependant upon the lead times associated with a particular sector, but they design for the future. That’s what they do.” [EVANS, 2003, S. 3] Im Produktentwicklungsprozess müssen nicht nur klar definierte Anforderungen erfüllt werden, sondern auch noch unbekannte Aspekte antizipiert oder Wicked Problems gelöst werden. Dabei kann es sich beispielsweise um Fragen der Trendentwicklung oder die wandelnde Wahrnehmung der Nutzer handeln. Mit der Festlegung der äußeren Produkt- gestalt geben Gestaltende ihre jeweilige Antwort und ihre Annahmen für die Zukunft preis, die zusätzlich von ihrer eigenen Prägung, durch den kulturellen Hintergrund und dem Zeitgeist beeinflusst sein können. Dieser formalästhetische Zeitstempel wird als Design- alter bezeichnet und kann von Nutzern wahrgenommen werden. Die Motivation, das Alter von Produkten tiefergehend zu untersuchen, kann aus einem wesentlich besser erschlossenen Fachbereich abgeleitet werden: das Alter der Men- schen. Die menschliche Alterswahrnehmung ist in ganz unterschiedlichen Bereichen von Inte- resse, woraus variierende methodische Herangehensweisen resultieren. In der Kriminologie ist das Alter u. a. für die Berufung auf die geltende Rechtslage z. B. in Form von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht wichtig. Hier erfolgt die Altersbestim- mung vor allem mit biologischen Merkmalen wie der Zahnstruktur, den Handknochen oder dem Schlüsselbein [SCHMELING ET AL., 2008]. Das wahrgenommene Alter kann auch zur Identifikation von Personen herangezogen werden. Anastasi und Rhodes zeigen je- doch, dass bei Augenzeugenberichten die Alterseinschätzung vom Alter der Zeugen ab- hängt. So liefern jüngere Probanden in der Studie verlässlichere Alterseinschätzungen als ältere Probanden. [ANASTASI UND RHODES, 2006] Schwerpunkt in vielen Ansätzen zur Alterserkennung ist das Gesicht. Burt und Perret überlagern in ihrem Experiment verschiedenaltrige Gesichter und lassen diese bewerten [BURT UND PERRET, 1995]. Matts et al. leiten anhand der Bewertung von Hautfarbe und -struktur der Wange die Alterseinschätzung sowie die jeweilige Attraktivität und den Ge- sundheitszustand ab [MATTS ET AL., 2007]. Neben den klassischen Probandenversuchen kommen immer öfter auch Algorithmen und automatisierte Bilderkennung zum Einsatz. Die Forschenden versprechen sich dadurch Das Designalter beschreibt die zeitliche Einordnung eines Produktes durch den Betrachter basierend auf der wahrgenommenen Produktgestalt. 24 Stand der Forschung beispielsweise Unterstützung in der Strafverfolgung oder wollen die Technologie für vir- tuelle Zugangskontrollen nutzen. ([GENG ET AL., 2007], [GUO ET AL., 2009], [BAUCKHAGE ET AL., 2010], [KHALIFA UND SENGUL, 2018]) Das wahrgenommene Alter führt bei den Betrachtenden zu mittelbaren und unmittelbaren Reaktionen. Chasteen et al. beschäftigen sich mit der Verschleierung des Alters durch kosmetische Eingriffe und dem resultierenden gesellschaftlichen Urteil. Abhängig vom wahrgenommenen Alter zeigen die Probanden mehr oder weniger Verständnis für den Eingriff. [CHASTEEN ET AL., 2011] Chang untersucht die Alterswahrnehmung in der Produktwerbung. Wenn das eigene kog- nitive Alter mit dem wahrgenommenen Alter der Werbemodells übereinstimmt, triggert dies positive Effekte wie eine stärkere Markenbindung und das „Für-mich“-Gefühl. [CHANG, 2008] Allerdings kann eine Diskrepanz zwischen gefühltem und chronologischem Alter gerade bei älteren Menschen zu Konflikten führen, wenn ihre Produktpräferenzen nicht mehr zum marketingtechnischen Nutzerprofil passen. Diese Nichtbeachtung bzw. das Abspre- chen der eigenen Interessen durch das Produktmarketing kann Frustration auslösen. [CARVER, 2019] Für das Designalter lassen sich viele Parallelen ziehen, wenngleich der Forschungsstand hinter der Erforschung des menschlichen Alter liegt. Das Wissen um die zeitliche Einord- nung, die entscheidungsrelevanten Merkmale, ihre Manipulation und die wahrscheinliche Reaktion der Betrachter kann für den Entwicklungsprozess von Nutzen sein. Ob es mög- lich ist, dem Produkt gezielt eine angemessene Gestalt für seine zeitliche Positionierung im Markt zu geben, wird am Beispiel des Automobils in den folgenden Kapiteln unter- sucht. Produktbeispiel Automobil 25 3 Produktbeispiel Automobil Für die Untersuchung des Designalters wird das Produktbeispiel Automobil gewählt. Im ersten Unterkapitel werden sowohl die gesellschaftliche Bedeutung als auch das techno- logische und gestalterische Potenzial des Automobils erörtert und für die Begründung der Produktwahl herangezogen. Das nachfolgende Kapitel beschäftigt sich mit wissenschaft- lichen Untersuchungen zum Fahrzeugexterieur. Hierbei werden verschiedene Methodi- ken zur Strukturierung der Fahrzeuggestalt und Forschungsansätze zur Wahrnehmung ebendieser präsentiert. Der aktuelle Kenntnisstand zur Wahrnehmung des Designalters am Automobil wird im darauffolgenden Kapitel dargestellt. Als Ergebnis dieser Betrach- tungen kann abschließend der weitergehende Forschungsbedarf umrissen werden. 3.1 Begründung der Produktwahl Im Automobil vereinen sich zahlreiche Eigenschaften, die es für Forschungsarbeiten im Allgemeinen interessant machen. So profitieren Probandenversuche von der Omniprä- senz von Fahrzeugen in unserer Gesellschaft. Die Funktionsweise ist den Testpersonen bekannt, die Handhabung vertraut und das Interesse am Versuch durch Selbstidentifika- tion mit dem Produkt hoch. Involviertheit und Motivation unterstützen nachweislich die Aussagewilligkeit von Probanden, woraus eine höhere Datenqualität und Ergebnisgüte resultiert [PELZ, 2012, S. 61 ff.]. Eine weitere förderliche Eigenschaft ist die Gliederung der Gestalt. Das Fahrzeug lässt sich in das Exterieur mit entsprechender Außenwirkung und das Interieur mit Mensch- Maschine-Schnittstellen unterteilen. In beiden Bereichen können Funktionsbaugruppen auf größtenteils unabhängige Designelemente heruntergebrochen werden. Diese lassen sich gezielt für Manipulationen im Forschungsdesign nutzen. Das Automobil ist außerdem ein Produkt mit starker zeitlicher Bindung und bietet somit Wirkraum für das Designalter. Gesellschaftlich war das Automobil richtungsweisend für das 20. Jahrhundert. Individualmobilität und Lebensumstände beeinflussen sich noch heute wechselseitig. Aus technischer Perspektive besitzt das Automobil eine lange Ent- wicklungshistorie mit Generationen an Konstruktionsvarianten. Gleichzeitig fordert es ei- nen steten technologischen und gestalterischen Fortschritt in Form neuer Modelle. Dieses mehrdimensionale Spannungsfeld, das in den nachfolgenden Kapiteln weiter de- tailliert wird, verspricht eine Prädisposition für die Erforschung des Designalters. 26 Produktbeispiel Automobil 3.1.1 Gesellschaftliche Bedeutung des Automobils Über die Verknüpfung von Gesellschaft und Automobil könnte eine eigenständige Dis- sertation verfasst werden und vergleichbare Schriftwerke finden sich bereits in den So- zial- und Geisteswissenschaften (u. a. [ROSENTHAL, 1999]). Die folgenden Abschnitte sind daher nur als grober Anriss dieser Thematik zu verstehen und fokussieren sich vornehm- lich auf die individuelle Bedeutungsebene. Volkswirtschaftliche und sozioökonomische Betrachtungen werden nicht angestellt. „Autos sind im 20. Jahrhundert nicht nur für breite Teile der Bevölkerung zu einem unver- zichtbaren Gebrauchsgegenstand, sondern auch zum Symbol für Freiheit, Fortschritt und Wohlstand geworden.“ [HAAS, 2018, S. 545]. Die Bedeutung, die dem Auto beigemessen wird, kann sowohl entsprechenden Statisti- ken zum Mobilitätsverhalten entnommen werden, schlägt sich aber auch in der deutschen Sprache nieder. Begriffe wie Familienkutsche, Nuckelpinne oder Rennpappe wären ei- nem Fremdsprachler wohl schwer zu erklären, verdeutlichen aber gerade die höchst sub- jektive Beziehung zum Produkt Auto. Auf persönlicher Ebene ist das Auto vornehmlich als Befähigung zu sehen. Es befähigt zu einer individuellen Mobilität, einer ortsunabhängigen Berufswahl und zu freien Kon- sumentscheidungen. Für einen kleinen Anteil der Bevölkerung dient das Auto auch dem Selbstzweck in Form des reinen Fahrvergnügens. Damit alleine lässt sich der Stellenwert des Autos in unserer Gesellschaft jedoch nicht erklären. Als Gegenbeispiel sei der Kühlschrank angeführt. Auch er ermöglicht eine indi- viduelle Ernährung und freie Konsumentscheidungen aufgrund längerer Haltbarkeiten und anpassbaren Lagerungsbedingungen für Lebensmittel. Obwohl Nahrung zur unter- sten Stufe der Bedürfnispyramide nach Maslow zählt [MASLOW, 1978], wäre eine ver- gleichbare emotionale Bindung, wie man sie bei Automobilen beobachtet (u. a. [SHELLER, 2004]), an einen Kühlschrank abwegig. Eine mögliche Antwort findet sich durch einen Perspektivwechsel. Sheldon et al. be- schreiben zehn psychologische Bedürfnisse („needs“), die dafür verantwortlich sind, ob ein Erlebnis („event“) als erfüllend wahrgenommen wird oder nicht [SHELDON ET AL., 2001]. Sie etablieren damit eine nicht-hierarchische Alternative zu Maslows Ansatz. In ihrer Arbeit transferieren Hassenzahl et al. diese Erkenntnisse auf interaktive Produkte und reduzieren mithilfe von Validierungsstudien für ihren Anwendungskontext die Anzahl relevanter Bedürfnisse [HASSENZAHL ET AL., 2013]. Die für Human Computer Interaction gewonnenen Einsichten können zurückgeführt werden in die Räumlichkeit zur Mensch- Produkt-Interaktion. In Tabelle 3.1 sind die Bedürfnisse nach Hassenzahl ergänzt mit den ursprünglichen needs nach Sheldon dargestellt. Produktbeispiel Automobil 27 Tabelle 3.1: Psychologische Grundbedürfnisse am Beispiel Auto nach [HASSENZAHL ET AL., 2013], [SHELDON ET AL., 2001] Bedürfnisse Bezug zum Automobil „Durch das Auto fühle ich mich …“ [H AS SE N ZA H L ET A L. , 2 01 3] Autonomie Unabhängig und frei in meinen Entscheidungen Kompetenz Fähig und in der Lage Aufgaben effizient zu lösen Popularität Respektiert und um meine Meinung geschätzt Sicherheit Sicher und geschützt vor unklaren Situationen und Bedrohungen Stimulation Angeregt durch neue Eindrücke und Aktivitäten Verbundenheit In Kontakt und näher bei den Menschen, denen ich wichtig bin [S H EL D O N E T AL ., 20 01 ] Luxury In der Lage, Dinge zu besitzen, die ich begehre Meaning Erfüllt und auf dem Weg zu meiner wahren Bestimmung Physical thriving Körperlich in einer guten Verfassung Self-esteem Bestärkt und zuversichtlich in Bezug auf meine Fähigkeiten Je besser ein Produkt diese Bedürfnisse des Nutzers befriedigen kann, umso höher ist die User Experience, die wiederum mit der emotionalen Nutzerreaktion korreliert [MAHLKE, 2008]. Unter diesem Überbegriff sammeln sich u. a. auch die Nutzungsdauer, Nutzungshäufigkeit und die emotionale Produktbindung. Die Optimierung einzelner Be- dürfnisse kann demnach in direktem Bezug zum Markterfolg stehen. So untersuchen Gierl et al. beispielsweise das Bedürfnis der Kunden nach Stimulation und decken Wirk- mechanismen auf, welche die Markentreue beim Neuwagenkauf beeinflussen [GIERL ET AL., 2002]. Mit dem Automobil steht dem Einzelnen ein Produkt zur Verfügung, das nicht nur den funktionalen Ansprüchen, eine Person von A nach B zu transportieren, Genüge tut, son- dern auch die psychologischen Bedürfnisse erfolgreich befriedigt. Sei es die Autonomie, selber zu bestimmen, wann man sich auf den Weg ins Büro macht; die Kompetenz, das Fahrzeug zu steuern oder die Popularität, die man durch die Fahrzeugwahl im Bekann- tenkreis gewinnen kann. Das Fahrzeug vermittelt Sicherheit vor Umwelteinflüssen wie Wind und Regen und trennt den Fahrer von fremden Menschen, denen man z. B. im 28 Produktbeispiel Automobil öffentlichen Nahverkehr begegnet wäre. Für Bekannte, Familie und Freunde ist es zu- sätzlich ein soziales Vehikel: man fährt zum Training, bringt die Kinder in die Schule und am Wochenende geht es zu den Schwiegereltern. Nicht zuletzt sorgen Autos durch ihr Design, ihre Ausstattung und das Infotainment für fortwährende Stimulation. Die Kopp- lung mit Smart Devices fügt dem eine weitere Dimension hinzu. All dies führt dazu, dass dem Automobil auch gesamtgesellschaftlich eine hohe Bedeu- tung beigemessen wird. In der Stadtplanung und Infrastrukturentwicklung ist das Auto- mobil der Maßstab unserer Zeit. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es sich bei der höchsten Brücke Deutschlands, der Kochertalbrücke, um eine Autobahnbrücke handelt und das Bundesfernstraßennetz 51.018 km umfasst, während das deutsche Schienen- netz lediglich 38.600 km besitzt. Insgesamt wird die Ausbreitung des deutschen Straßen- netzes auf 830.000 km geschätzt. [Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruk- tur, 2022] Als weitere Argumente ließen sich die Führerscheinquote, die Repräsentation in den Me- dien oder das deutsche Straßenverkehrsrecht heranziehen, was die Darstellungen aller- dings ausufern lassen würde. Zusammenfassend lässt sich aber sagen, dass die Allge- genwärtigkeit in unserer Gesellschaft verbunden mit der Wirkung auf Probanden das Automobil zu einem vielversprechenden Testobjekt macht. Speziell für das Designalter müssen jedoch auch die technologischen und gestalterischen Voraussetzungen stim- men. 3.1.2 Technologisches und gestalterisches Potenzial Ein Potenzial beschreibt die „Gesamtheit aller vorhandenen, verfügbaren Mittel, Möglich- keiten, Fähigkeiten, Energien“ [Duden, 2018]. Dieses Kapitel ergründet diese in Bezug auf das Automobil. Bereits vor über einhundert Jahren haben sich Clayden und Spencer mit den Trends und Möglichkeiten des Automobildesigns beschäftigt und sind zu folgen- dem Schluss gekommen: “We are not going to be at the end of passenger car chassis development within ten years, nor within fifty.” [CLAYDEN UND SPENCER, 1916, S. 220] Ihre Kernaussage ist heute genauso aktuell wie damals, denn das Ende der Produktent- wicklung beim Automobil ist noch lange nicht absehbar. Neue Gestaltungsräume öffnen und schließen sich durch den technologischen Fortschritt. Produktbeispiel Automobil 29 Höhere Fahrgeschwindigkeiten rückten Anfang des 20. Jahrhunderts die Aerodynamik in den Fokus der Entwicklung und forderten neue Karosserieformen mit geringerem Luftwi- derstand und niedrigerem Schwerpunkt [KIESELBACH, 1998, S. 184 ff.]. Ein Technologie- treiber unserer Zeit ist das assistierte und automatisierte Fahren, was sich gestalterisch auf das Exterieur, beispielsweise bei der Sensorintegration (siehe [FISCHER ET AL., 2021a]), und das Interieur, in Form neuer Mensch-Maschine-Schnittstellen und Nut- zungsszenarien, auswirkt. Wenn man von einer Entwicklungszeit von 52 Monaten [BRAESS UND SEIFFERT, 2007, S. 44] oder sogar 5 – 7 Jahren [SJÖSTEDT, 1987, S. 5] ausgeht, hat die Konzeptentwicklung für die Automobile der nahen Zukunft bereits begonnen. Kraus betont, dass ein Auto, das „über eine mittlere Produktionszeit von acht Jahren auf der Straße sichtbar sein wird, […] eine eigene moderne Formensprache haben [muss]“ [KRAUS, 2007, S. 38]. Zieht man diese Aussagen zusammen, wird die Relevanz des Designalters für das Pro- duktbeispiel Auto deutlich. Lange Entwicklungszeiträume in Kombination mit langanhal- tender Produktpräsenz schaffen aufgrund der temporären Verschiebungen zwischen Ge- staltungs- und Nutzungszeitpunkt ein reales Anwendungspotenzial. Neben der Motivation an einem Testobjekt zu forschen, das von den Erkenntnissen nach- haltig profitieren kann, besitzt das Automobil eine weitere Stärke. Dafür muss der Begriff des Potenzials zunächst freier aufgegriffen werden. Nicht nur das zukünftig „Mögliche“ ist von Interesse, sondern auch das bereits Erreichte. So besitzt das Automobil im Vergleich zu anderen Produkten eine Vielzahl gut dokumentierter Gestaltungsvarianten und eine breite Marken- und Modellhistorie. In dieser Sammlung finden sich Designrevolutionen, technologische Meilensteine, aber auch gestalterische Fehlschläge und Sackgassen. Dieses Wissen und die Spannweite über Jahrzehnte macht das Auto zu einem empfeh- lenswerten Testobjekt. Das Potenzial der Retrospektive kann für die Generierung vielver- sprechender Versuchssettings und Forschungsstimuli genutzt werden. Forschungsarbeiten am Automobil profitieren zusätzlich von der Aufgliederung der Fahr- zeuggestalt in distinktive Funktionsbaugruppen und Designelemente. Eine klare Differen- zierbarkeit der Gestaltungsparameter vereinfacht die Erforschung und Rückführung von Effekten auf singuläre Faktoren. Diese Eigenschaften ermöglichen zudem die Implemen- tierung von modularen Forschungskonzepten. Die nachfolgenden Kapitel geben einen Einblick in die Forschungspraxis und zeigen Bei- spiele für die Verwendung des Automobils. 30 Produktbeispiel Automobil 3.2 Wissenschaftliche Untersuchungen zum Fahrzeugexterieur Aufgrund dargelegten Charakteristika erfreut sich das Automobil hoher Beliebtheit in der Forschungsgemeinschaft. Es wird nicht nur um seiner selbst willen untersucht, sondern dient auch als Versuchsträger für weiterreichende wissenschaftliche Fragestellungen. So wird das Automobil unter anderem gerne für Ästhetik- oder Wahrnehmungsstudien als repräsentatives Industrieprodukt herangezogen (bspw. [FISCHER ET AL., 2021b], [HEKKERT ET AL., 2003]). Es ist ebenfalls prädestiniert für die Erforschung von Mensch-Maschine- Schnittstellen, wobei der Betrachtungsschwerpunkt dieser Arbeit auf dem Exterieur und nicht dem Interieur liegt. In den nächsten Kapiteln werden Möglichkeiten zur Strukturie- rung der Fahrzeuggestalt, die Wahrnehmung dieser in wissenschaftlichen Studien und der fahrzeugspezifische Forschungsstand zum Designalter erörtert. 3.2.1 Strukturierung der Fahrzeuggestalt Die Gliederung des Fahrzeugexterieurs wurde als einer der Gründe für die Wahl des Automobils als Testobjekt angeführt. Dieses Argument wird auf den folgenden Seiten mit dem entsprechenden Wissen untermauert. Dabei wird es zunächst um verschiedene Systematiken gehen, die zur generellen Einordnung von Fahrzeugen verwendet werden. Die Betrachtungen führen von den einzelnen Klassifizierungen weiter zur strukturellen Gliederung der Fahrzeuggestalt, die für die Analyse von Wahrnehmungsprozessen ge- nutzt werden kann. Die Systematisierung der Fahrzeuggestalt dient unterschiedlichen Zwecken. Auf ihrer Basis lassen sich beispielsweise rechtliche Rahmenbedingungen fixieren oder internati- onale Übereinkommen treffen. Das Kraftfahrt-Bundesamt publiziert jährlich das „Verzeichnis zur Systematisierung von Kraftfahrzeugen und ihren Anhängern“ [Kraftfahrt-Bundesamt, 2022]. Hintergrund ist die gesetzliche Verpflichtung zur einheitlichen Erfassung und statistischen Auswertung von Fahrzeugdaten im Zentralen Fahrzeug-Register (ZFZR) (gem. §6 Abs. 7 Nr. 1 und Nr. 7 Buchstabe a (FZV), § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchstabe a (KBAG)). Von Interesse für die- ses Forschungsvorhaben ist die EG-Fahrzeugklasse M1. Darunter fallen alle Vehikel, „die für die Personenbeförderung ausgelegt und gebaut sind, mit mindestens vier Rädern und höchstens acht Sitzplätzen außer dem Fahrersitz“ [Kraftfahrt-Bundesamt, 2022, S. 16]. Mit zweistelligen Codes erfolgt eine Unterscheidung der Aufbauarten in die Limousine (AA), die Schräghecklimousine (AB), die Kombilimousine (AC), das Coupé (AD), die Kab- rio-Limousine (AE), Mehrzweckfahrzeuge (AF) und den Pkw-Pick-up (AG). Produktbeispiel Automobil 31 Je nach Größe, Motorisierung und Ausstattung werden Fahrzeuge außerdem unter- schiedlichen Segmenten zugeordnet. Diese umfassen Minis, Kleinwagen, Kompakt- klasse, Mittelklasse, obere Mittelklasse, Oberklasse, SUVs, Geländewagen, Sportwagen, Mini-Vans, Großraum-Vans, Utility-Fahrzeuge und Wohnmobile. [Kraftfahrt-Bundesamt, 2022]] Das Deutsche Institut für Normung e.V. veröffentlicht eine eigene „Systematik der Stra- ßenfahrzeuge“ [DIN 70010:2001]. Im Folgenden werden die unter Nummer 1.2.1 aufge- führten Typen von Personenkraftwagen betrachtet. Mit der Limousine (Nr. 1.2.1.1), der Kabrio-Limousine (Nr. 1.2.1.2), dem Coupé (Nr. 1.2.1.4), dem Kabriolett (Nr. 1.2.1.5), dem Kombi (Nr. 1.2.1.6) und dem Mehrzweck-Personenkraftwagen (Nr. 1.2.1.9) zeigt sich eine große Schnittmenge mit der Systematik des Kraftfahrbundesamtes. Allerdings gibt es auch Eigenheiten, wie etwa die Pullman-Limousine (Nr. 1.2.1.3). [ebd., S. 5 ff.] Das internationale Pendant zur DIN 70010 stellt die ISO 3833 „Road Vehicles – Types – Terms and definitions“ [ISO 3833:1977] dar. Dieses unscheinbare zwölfseitige Dokument ist ein Grundstein internationaler Übereinkommen und wird im Fünfjahresrhythmus über- prüft, so zuletzt 2019. Aus diesen Systematiken gehen Kategorisierungsmerkmale hervor wie z. B. die notwen- dige Anzahl an Türen und Fenstern, die Anordnung von Sitzen im Insassenraum oder die Art des Fahrzeugdaches. Abgesehen von diesen grundlegenden Festlegungen existieren jedoch keine gestalterischen Vorgaben im eigentlichen Sinne, anders als im folgenden Beispiel. Systematiken eignen sich ebenfalls für die Schöpfung eines berufsspezifischen Wort- schatzes und die Etablierung von Fachtermini, die mithilfe einer Aufbaulogik festgehalten und weitervermittelt werden. Im Handbuch der Kraftfahrzeugtechnik sprechen Wolff et al. im Vergleich zum KBA nicht von Aufbauarten, sondern Aufbauausprägungen und Grö- ßenklassen statt Segmenten [WOLFF ET AL., 2021, S. 140]. Diese Systematik richtet sich an Fachnutzer wie Fahrzeugkonstrukteure und Automobildesigner. So wird bei den Auf- bauausprägungen eine sprachliche Verbindung zur Form hergestellt. Das Fließheck, das Stufenheck oder das Steilheck beschreiben zumindest für einen Teil des Fahrzeugexte- rieurs den angestrebten Gestaltaufbau. Diese Bindung ist beim Großraum oder der offe- nen Ausprägung diffiziler. Auch bei den ursprünglich als Funktionsbezeichnung einge- führten SUVs und Pickups hat sich mittlerweile ein formaler Rahmen etabliert. Die Aufbauausprägungen lassen sich nach dieser Systematik in verschiedene Größen- klassen übertragen. In Tabelle 3.2 sind die typischen Kombinationen dargestellt. 32 Produktbeispiel Automobil Tabelle 3.2: Aufbauausprägungen und Anwendungen nach [WOLFF ET AL., 2021, S. 140] Aufbauausprägungen und Anwendungen der Aufbaukonzepte in unterschiedlichen Größenklassen (Blau = verbreitet, Hellblau = Einzelanwendung) M in ic ar s Kl ei nw ag en Ko m pa kt kl as se M itt el kl as se O b. M itt el kl as se Lu xu sk la ss e Aufbau- ausprägung Bemerkung Offen Als Roadster (2-sitzig) oder Cabriolet (meist 4-sitzig): Cabriolets häufig von Stufenheck oder Steilheckfahrzeu- gen abgeleitet Fließheck „Klassisches Coupé“ oder Differenzierung von Stufen- heck- oder Steilheckkonzepten Stufenheck Die klassische Ausprägung der Limousine (u. Klapp- dachcabrios) Steilheck In den unteren Fahrzeugsegmenten als „Hatchback“ in den oberen Segmenten als Kombifahrzeug Großraum Auch als MPV bezeichnete Fahrzeuge mit mehr als 5 Sitzplätzen oder vergrößertem Raumangebot, große Fahrzeughöhe „SUV“ Geländefahrzeuge, Hauptdifferenzierung über Boden- freiheit und Böschungswinkel. Basis: höhergelegte Steilheckfahrzeuge oder eigenstän- dige Konzepte „Pickup“ Vor allem in den USA verbreitete Aufbauform, meist von SUVs oder Trucks abgeleitet Die Autoren bieten einen alternativen Vorschlag zur Strukturierung an, der sich an geo- metrischen Grundformen orientiert. Dazu wird das Fahrzeug aus der seitlichen Perspek- tive in distinktive Abschnitte, sogenannte Boxen eingeteilt. Eine klassische Limousine kann so in die drei Boxen „Motorraum“, „Fahrgastzelle“ und „Kofferraum“ unterteilt wer- den. Bei einem Kombifahrzeug oder einer Kompaktklasse verschmelzen Kofferraum und Fahrgastzelle zu einer Box, wodurch diese Fahrzeuge dem 2-Box-Design zugeordnet werden. Das 1-Box-Design findet sich bei Automobilen, die als ein Volumen wahrgenom- men werden wie beispielsweise Vans oder Kleinwagenkonzepte. [WOLFF ET AL., 2021, S. 141] Holder nutzt eine Teilungsebene in der Karosseriemitte um das Automobil in Vorder- und Hinterwagen zu gliedern (siehe Abbildung 3.1). Der Aufbau dieser Abschnitte kann den geometrischen Ausprägungen additiv (A), integrativ (I) oder kubisch (C) zugeordnet wer- den. Aus der Kombination entsprechender Formen ergeben sich charakteristische Fahr- zeugtypen. Die Limousine lässt sich beispielsweise aus einer additiven Front und einem additiven Heck bilden. Die Umwandlung zum Kombi gelingt durch den Umbau der Heck- partie in eine kubische Form. [HOLDER, 2016, S. 9] Produktbeispiel Automobil 33 Abbildung 3.1: Gliederung der Fahrzeugkarosserie nach [HOLDER, 2016, S. 9] Anders als Holder orientiert sich Tumminelli nicht an Volumen, sondern vorrangig an Li- nien. Seine Taxonomie nutzt charakteristische Designlinien am Fahrzeug, um 20 Fahr- zeuggruppen zu differenzieren. Diese lassen sich grob in die Überkategorien Shell, Line, Box und Body einteilen. Da die Übergänge zum Teil fließend sind, zeigt Tabelle 3.3 nur eine neutrale Übersicht ohne weitere Verbindungen zwischen den Gruppen. Eine detail- lierte Erklärung zu den einzelnen Stilrichtungen findet sich in Tumminellis Buch „Car De- sign“. [TUMMINELLI, 2006, S. 19] Tabelle 3.3: Fahrzeugformen nach [TUMMINELLI, 2006] Fahrzeugformen nach Tumminelli PreModern Classic Retro New Classic Flow Shell Flow Line Flow Box Smooth Body Soft Shell New Line Edge Box New Edge Box Baroque Edge Line New Baroque Edge Body Graph Wedge Line Rocket Carved Body 34 Produktbeispiel Automobil 3.2.2 Wahrnehmung der Fahrzeuggestalt Dieses Kapitel knüpft an die theoretischen Grundlagen zur visuellen Wahrnehmung an. Andersartige Sinneseindrücke wie haptische oder akustische Reize am Automobil wer- den zwar erforscht (bspw. [TONDERA ET AL., 2022]), sind in diesem Rahmen allerdings nicht von Belang. Die nachfolgend vorgestellten Studien beschäftigen sich nicht zwin- gendermaßen mit der Wahrnehmung der Fahrzeuggestalt an sich, sondern können auch in einem weiterführenden Kontext einen automobilen Bezug aufweisen. In Tabelle 3.4 sind exemplarische Publikationen aufgeführt, die das Fahrzeugexterieur für ihre Zwecke nutzen. Der Bezug und die Notwendigkeit am Automobil zu forschen differiert deutlich. Während bei Hekkert et al. das Auto nur eines von mehreren Produkt- beispielen ist, um die Zusammenhänge zwischen neuartigen und typischen Designs zu analysieren [HEKKERT ET AL., 2003], existieren in den aufgeführten Studien zur Design- bewertung konkrete Anwendungsfälle in der Automobilindustrie. Dabei handelt es sich zum Beispiel um ästhetische Bewertungsmethoden [RANSCOMBE ET AL., 2011] oder Emp- fehlungen zur Produktpräsentation im Hinblick auf neue Technologien wie VR [KATO, 2019]. Der Markeneinfluss und die Nutzerwahrnehmung sind sowohl in der Produktentwick- lung als auch im Marketing von Interesse. Burnap et al. beschäftigen sich mit dem Ziel- konflikt zwischen Designfreiheit und Markenerkennung. Ihre Untersuchungen zeigen un- ter anderem, dass BMW im Vergleich mit anderen ausgewählten Marken einen hohen Wiedererkennungswert besitzt, jedoch resultierend Einschränkungen in der Gestaltungs- freiheit hinnehmen muss. [BURNAP ET AL., 2016] In der Kategorie Kulturelle Prägung finden sich zwei diametrale Ansätze. Zhang et al. wollen sich abgrenzen und eine eigene nationale und traditionsgeprägte Designsprache für das Fahrzeugexterieur etablieren [ZHANG ET AL., 2021]. Koyama et al. hingegen be- trachten das automobile Designmanagement in Japan, den USA und Europa, um die besten Eigenschaften und Vorgehensweisen zu vereinen [KOYAMA ET AL., 2009]. Das Au- tomobil fungiert als globales Produktbeispiel mit starken nationalen Industrien. Die über- geordnete Fragestellung von Abgrenzung und Kooperation lässt sich aber auch auf an- dere Produktsysteme übertragen. Ein wachsendes Forschungsfeld stellen Datenanalysen dar, sei es die Aufbereitung und Analyse von historischen Fahrzeugdaten [HOLDER, 2021] oder die Einbeziehung von künstlicher Intelligenz [LEE ET AL., 2022]. Mit Machine-Learning dekonstruieren Ma et al. das Designexpertenwissen aus tausenden Fahrzeugfrontansichten und transferieren die- ses in ein kategoriales System, das den zukünftigen Entwicklungsprozess unterstützen soll [MA ET AL., 2022]. Produktbeispiel Automobil 35 Tabelle 3.4: Beispielhafte Forschungsarbeiten zur Fahrzeuggestalt Fo rs ch un gs fo ku s G es ch le ch ts sp ez ifi sc he U nt er sc hi ed e be i P ar ei do lie a m A ut om ob il Au sw irk un g vo n an th ro po m op he n Fa hr ze ug fro nt en a uf A uf m er ks am ke it Pa re id ol ie in d er F ah rz eu gf ro nt Er pr ob un g ei ne r n eu en E nt w ic kl un gs m et ho de a m B ei sp ie l e in es S U V H is to ris ch e En tw ic kl un g vo n D im en si on en u nd P ro po rti on en b ei m A ut om ob il Au to m at is ie rte B ild er ke nn un g vo n Fa hr ze ug de si gn el em en te n Tr an sf er v on D es ig ne xp er te nw is se n in e in e M ac hi ne -L ea rn in g- D at en ba nk Au sw irk un ge n de r D ar st el lu ng sf or m a uf d ie P ro du kt w ah rn eh m un g O pt is ch es Z us am m en sp ie l z w is ch en F ah rz eu g- u nd F el ge nt yp Vo ra us sa ge d er P ro du kt w ah rn eh m un g M et ho de ne nt w ic kl un g fü r Ä st he tik be w er tu ng en a m A ut om ob il D es ig ne nt sc he id un ge n in d er ja pa ni sc he n, e ur op äi sc he n un d am er ik an is ch en A ut om ob ilin du st rie Tr ad iti on u nd K ul tu r i n ch ar ak te ris tis ch e D es ig ns pr ac he ü be rfü hr en Tr ad eo ff zw is ch en D es ig nf re ih ei t u nd M ar ke ne rk en nu ng Zu sa m m en ha ng z w is ch en w ah rg en om m en er Ä hn lic hk ei t u nd M ar ke nz uo rd nu ng Ei nf lu ss v on U rs pr un gs la nd u nd P ro du kt io ns la nd a uf d en w ah rg en om m en en M ar ke nc ha ra kt er Au sw irk un g vo n N eu ar tig ke it un d Ty pi k au f d ie ä st he tis ch e Pr od uk tw ah rn eh m un g N ut ze ra kz ep ta nz v on R em an uf ak tu rin g un d Im pl em en tie ru ng v on C irc ul ar E co no m y Ve rk nü pf un g vo n Fa rb e un d Fo rm b ei d er F ah rz eu gw ah rn eh m un g Q ue lle H O BA C K U N D G R EE N E, 2 02 1 PU R U C KE R E T AL ., 20 14 W IN D H AG ER E T AL ., 20 08 FR IZ ZI ER O E T AL ., 20 22 H O LD ER , 2 02 1 LE E ET A L. , 2 02 2 M A ET A L. , 2 02 2 KA TO , 2 01 9 LU O E T AL ., 20 12 M O O N E T AL ., 20 21 R AN SC O M BE E T AL ., 20 11 KO YA M A ET A L. , 2 00 9 ZH AN G E T AL ., 20 21 BU R N AP E T AL ., 20 16 FI SC H ER E T AL ., 20 21 b FE TS C H ER IN U N D T O N C AR , 2 01 0 H EK KE R T ET A L. , 2 00 3 M IL IO S U N D M AT SU M O TO , 2 01 9 TA KE BU C H I E T AL ., 20 12 Ka te go rie An th ro po m or ph is m us C as e St ud y D at en an al ys en D es ig nb ew er tu ng Ku ltu re lle P rä gu ng M ar ke ne in flu ss N ut ze rw ah rn eh m un g 36 Produktbeispiel Automobil Ebenfalls mit Fahrzeugfronten beschäftigt sich Anthropomorphismus. Darunter ver- steht man im Allgemeinen die Projektion menschlicher Eigenschaften auf Tiere oder Ob- jekte. Die Pareidolie ist eine spezielle Form davon und bezeichnet das Erkennen von Gesichtern in unbelebten Objekten. Windhager et al. weisen das Vorliegen dieser Effekte bei der Fahrzeugfront nach und zeigen unter anderem, dass Scheinwerfer als Augen ge- lesen werden [WINDHAGER ET AL., 2008]. Auf der Suche nach geschlechtsspezifischen Wahrnehmungsunterschieden finden Hoback und Greene heraus, dass Frauen sensibler auf aggressive Fahrzeugfronten reagieren und spekulieren über evolutionshistorische Gründe [HOBACK UND GREENE, 2021]. Purucker et al. folgen ebenfalls dem evolutionären Forschungszweig. Sie zeigen mit ihrer Eyetracking-Studie, dass aggressive Fahrzeugfronten zwar initial mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Langfristig jedoch wird von den Probanden die Betrachtung bedrohlich wirkender Designelemente und der daraus resultierende Diskomfort vermieden [PURU- CKER ET AL., 2014]. Mit dem Wissen um die anthropomorphe Wirkung lassen sich somit gezielte Nutzerreaktionen kreieren. Die hier vorgestellten Arbeiten bilden nur einen kleinen Teil der Forschung zum Fahr- zeugexterieur ab und haben einen nutzerzentrierten Bezug. Bewusst außer Acht gelas- sen wurden werkstoffliche, konstruktions- und fertigungstechnische Untersuchungen ebenso wie individuelle