UNI STUTTGART Simon Christoph Feldmeth Simulative Bestimmung der Temperatur im Dichtkontakt von Radial-Wellendichtungen Bericht Nr. 217 Berichte aus dem Institut für Maschinenelemente Antriebs-, Dichtungs-, Schienenfahrzeug- u. Zuverlässigkeitstechnik D 93 ISBN 978-3-948308-17-9 Institut für Maschinenelemente Antriebs-, Dichtungs-, Schienenfahrzeug- u. Zuverlässigkeitstechnik Universität Stuttgart Pfaffenwaldring 9 70569 Stuttgart Tel. (0711) 685 – 66170 Prof. Dr.-Ing. A. Nicola Simulative Bestimmung der Temperatur im Dichtkontakt von Radial-Wellendichtungen Simulative Determination of the Temperature in the Sealing Contact of Rotary Shaft Seals Von der Fakultät Konstruktions-, Produktions- und Fahrzeugtechnik der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde eines Doktor-Ingenieurs (Dr.-Ing.) genehmigte Abhandlung Vorgelegt von Dipl.-Ing. Simon Feldmeth aus Ulm Hauptberichter: apl. Prof. Dr.-Ing. Frank Bauer Mitberichter: Univ.-Prof. Dr. rer. nat. habil. Andreas Wortmann Tag der mündlichen Prüfung: 21.11.2024 Institut für Maschinenelemente der Universität Stuttgart 2025 Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen meiner Tätigkeit als Akademi- scher Mitarbeiter am Institut für Maschinenelemente (IMA) der Universität Stuttgart. Während dieser Zeit bearbeitete ich unter anderem das Forschungsprojekt HA 2251/27-1 „Multiskalen-Simulationsmodell zur Temperaturvorhersage im Dichtsystem Radial-Wellendichtung“, das von der Deutschen Forschungs- gemeinschaft (DFG) gefördert wurde, sowie teilweise das Forschungsprojekt IGF 21587 N „Erweitertes Berechnungstool für die Kontakttemperatur bei Radial-Wellendichtungen“, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert wurde. Viele Ergebnisse dieser Arbeit basieren auf Forschungen, die innerhalb dieser Projekte durchgeführt wurden. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn apl. Prof. Dr.-Ing. Frank Bauer, Leiter des Bereichs Dichtungstechnik am IMA. Durch seine Unterstützung und seine Motivation wurde diese Arbeit erst möglich. Herrn Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Haas, der den Bereich Dichtungstechnik bis zum Jahr 2017 leitete und unter seiner Führung zu einer anerkannten Forschungsstelle formte, danke ich für das große Vertrauen und die damit verbundene Entwicklungsmöglichkeit in meinen Anfangsjahren am Institut. Herrn Prof. Dr.-Ing. Bernd Bertsche danke ich für das von ihm bis zu seinem Ruhestand als Institutsleiter geförderte, familiäre Arbeitsklima am IMA. Herrn Univ.-Prof. Dr. rer. nat. habil. Andreas Wortmann, Lehrstuhlinhaber „Model-Driven Engineering for Manufacturing Automation“ am Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW) der Universität Stuttgart, danke ich für die Durchsicht der Arbeit, die Übernahme des Mitberichts und sein Interesse an der Arbeit. Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des IMAs für die aktive Gemeinschaft und Hilfsbereitschaft. Besonders hervorheben möchte ich die gemeinsame Zeit mit André Daubner, Matthias Klaiber, Cornelius Fehrenbacher, Sumbat Bekgulyan, Florian Bosch, Axel Eipper, Mario Stoll, Philipp Fricker, Christoph Olbrich sowie Sabine Sanzenbacher, Susanne Hahn und Jacqueline Gerhard. Lothar Hörl und Matthias Baumann danke ich für die besonders lange und intensive Zusammenarbeit. Bedanken möchte ich mich auch bei allen Studierenden, die als studentische/ wissenschaftliche Hilfskräfte und/oder mit ihren Studien-, Bachelor-, Master- und Diplomarbeiten zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Anstelle einer namentlichen Erwähnung sei an dieser Stelle auf die chronologische Auflistung der studentischen Arbeiten im Literaturverzeichnis ab S. 202 verwiesen. Maurice Huber, Philipp Bühler (beide unzählige Radialkraft- Messungen) und Benjamin Schnabel (Programmierung von InsECT) seien noch explizit erwähnt, da diese im Kontext dieser Arbeit ausschließlich als Hilfskräfte wirkten. Mein herzlichster Dank gebührt meinen Eltern, die mir meine Ausbildung ermöglicht und mich immer gefördert haben. Stuttgart, im April 2024 Simon Feldmeth Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis i Abkürzungen, Formelzeichen und Indizes v Abstract xi 1 Einleitung 1 1.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.3 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2 Grundlagen 5 2.1 Aufgabe von Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2.2 Dynamische Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2.3 Wellendichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2.4 Radial-Wellendichtungen mit Elastomer-Dichtlippe . . . . . 6 2.4.1 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.4.2 Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.4.3 Schadensmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.4.4 Werkstoffauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.5 Wärmebilanz im Dichtsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.5.1 Wärmeentstehung im Dichtkontakt . . . . . . . . . . 15 2.5.2 Thermisches Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . 16 2.5.3 Wärmeabfuhr aus dem Dichtkontakt . . . . . . . . . 17 2.5.4 Einflussfaktoren und Wechselwirkungen . . . . . . . 18 2.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3 Anpressung der Dichtlippe (Radialkraft) 21 3.1 Definition der Radialkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.2 Entstehung der Radialkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.2.1 Überdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.2.2 Federunterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3.2.3 Zusätzliche Erhöhung durch Druck . . . . . . . . . . 24 3.3 Radialkraftmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.3.1 Radialkraftmessung nach dem Zwei-Backen-Prinzip . 24 3.3.2 Weiterentwicklung des Radialkraft-Messgeräts . . . . 25 i ii Inhaltsverzeichnis 3.4 Einflussfaktoren auf die Radialkraft-Messung . . . . . . . . 26 3.5 Publikation P1 zur Radialkraft (TuS 2021) . . . . . . . . . 27 3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 4 Reibwärme (Reibmoment) 37 4.1 Reibmoment-Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.1.1 Reibmoment-Prüfstand . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.1.2 Praktische Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . 39 4.1.3 Approximation des Reibmoment-Verlaufs . . . . . . 41 4.2 Gümbeldiagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.2.1 Gümbelzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.2.2 Reibungskoeffizient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2.3 Gümbelkurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2.4 Limitierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4.3 Publikation P2 zum Reibmoment (ISC 2022) . . . . . . . . 45 4.4 Fazit zum Schmierstoffeinfluss auf das Reibmoment . . . . . 64 4.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4.6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5 Messung der Kontakttemperatur 69 5.1 Berührende Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.1.1 Temperatursensor im RWDR . . . . . . . . . . . . . 69 5.1.2 Temperatursensoren in der Welle . . . . . . . . . . . 70 5.2 Berührungslose Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5.2.1 Grundlagen der Infrarot-Thermografie . . . . . . . . 71 5.2.2 Messgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5.2.3 Messgenauigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 5.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 6 Numerische Simulation 75 6.1 Entwicklung der Simulationsmethode . . . . . . . . . . . . . 75 6.1.1 Definition der Modellgrenze und Randbedingungen . 76 6.1.2 Wahl der Simulationsmethode und -software . . . . . 76 6.1.3 Modellierung der Reibwärme . . . . . . . . . . . . . 77 6.1.4 Festlegung der Anfangsbedingung . . . . . . . . . . 78 6.1.5 Parametrisierung des Modells . . . . . . . . . . . . . 79 6.1.6 Integration der Mehrphasenströmung . . . . . . . . . 79 6.2 Publikation P3 zur Methodenentwicklung (ANSYS 2011) . 79 6.3 Validierung der Simulationsmethode . . . . . . . . . . . . . 93 6.4 Publikation P4 zur Validierung (TuS 2013) . . . . . . . . . 93 6.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Inhaltsverzeichnis iii 7 Analytisches Näherungsverfahrens ExACT 103 7.1 Herleitung des Näherungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . 103 7.2 Publikation P5 zur Herleitung (ANSYS 2015) . . . . . . . . 103 7.3 Vergleich mit anderen Näherungsverfahren . . . . . . . . . . 124 7.4 Publikation P6 zur Validierung (ISC 2016) . . . . . . . . . . 124 7.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 8 Berechnungstool InsECT 143 8.1 Desktop-Version . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 8.2 Publikation P7 (SMK 2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 8.3 Web-App . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 8.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 9 Praktische Anwendung 165 9.1 Anwendung der Simulationsmethode in der Industrie . . . . 165 9.2 Anwendung der Simulationsmethode in der Forschung . . . 167 9.2.1 Analyse des Dichtungsumfelds . . . . . . . . . . . . 167 9.2.2 Publikation P8 zur Methodenanwendung (ASc 2023) 167 9.2.3 Welle mit integriertem Temperatursensor . . . . . . 195 9.3 Einsatz des Berechnungstools InsECT . . . . . . . . . . . . 196 9.3.1 Einsatz in der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . 196 9.3.2 Einsatz in der Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . 196 9.3.3 Einsatz bei der Überarbeitung der DIN 3761 . . . . 196 10 Zusammenfassung 197 Literaturverzeichnis 201 A Anhang 215 A.1 Stoffwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 A.1.1 Viskosität (Schmieröle) . . . . . . . . . . . . . . . . 215 A.1.2 Dichte (Schmieröle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 A.1.3 Wärmeleitfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 A.2 Zwischenschritte bei der Herleitung der ExACT-Verfahrens 220 A.2.1 Bilanzierung der Wärmeströme . . . . . . . . . . . . 220 A.2.2 Lösen der Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . 221 A.2.3 Analytische Lösung für das Modellsystem . . . . . . 223 A.3 Weitere Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 A.3.1 Publikation P9 zum Planschmoment (GfT 2013) . . 224 A.3.2 Publikation P10 zur Temperaturmessung (DK 2021) 236 A.3.3 Publikation P11 zur InsECT Web-App (JB 2024) . . 252 B Liste der bisher erschienenen Berichte aus dem IMA 272 Abkürzungen, Formelzeichen und Indizes Abkürzungen ACM Polyacrylat-Kautschuk CEL CFX Expression Language CFD Computational Fluid Dynamics CHT Conjugate Heat Transfer DGL Differentialgleichung ExACT Extended Approximation for the Contact Temperature of Ro- tary Shaft Seals FKM Fluor-Kautschuk GUI Graphical User Interface HNBR Hydrierter Acrylnitril-Butadien-Kautschuk IMA Institut für Maschinenelemente (der Universität Stuttgart) InsECT Instrument for Estimating the Contact Temperature of Rotary Shaft Seals MVQ Silikon-Kautschuk NBR Acrylnitril-Butadien-Kautschuk PFAS Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen(engl. per- and poly- fluoroalkyl substances) POM Polyoxymethylen RWDR Radial-Wellendichtring TEHD Thermo-Elasto-Hydrodynamik VOF Volume of Fluid v vi Abkürzungen, Formelzeichen und Indizes Formelzeichen, dimensionslose Kennzahlen 𝐵𝑖 Biot-Zahl [-] 𝐺 Gümbelzahl [-] 𝑁𝑢 Nußelt-Zahl [-] 𝑅𝑒 Reynolds-Zahl [-] Formelzeichen, griechische Buchstaben 𝛼 Fluidseitiger Kontaktwinkel der Dichtkante [°] 𝛼15 Thermischer Ausdehnungskoeffizient bei 15 ∘C [1/K] 𝛽 Luftseitiger Kontaktwinkel der Dichtkante [°] 𝛽xx Volumenkorrekturfaktor [-] Δ𝜗 Temperaturdifferenz zwischen Kontaktbereich und Ölsumpf [K] 𝛿 Überdeckung der Dichtlippe [mm] 𝜀 Emmisionskoeffizient einer Oberfläche [-] 𝜂 Dynamische Viskosität (des abzudichtenden Fluids) [Pa·s] 𝜆 Wärmeleitfähigkeit [W/m2] 𝜇 (Gleit-)Reibungskoeffizient [-] 𝜈 Kinematische Viskosität (des abzudichtenden Fluids) [mm2/s] 𝜔 Winkelgeschwindigkeit [1/s] Φ Kameraspezifische Temperaturkennlinie [W/m2] Φ𝑀 Gemessene Strahlungsintensität [W/m2] 𝜋 Kreiszahl [-] 𝜌 Dichte [kg/m3] 𝜎 Stefan-Boltzmann-Konstante [W/(m2K4)] Abkürzungen, Formelzeichen und Indizes vii 𝜗 Temperatur [∘C] 𝜗𝑆 Oberflächentemperatur des Messobjekts [∘C] 𝜗𝑎 Umgebungstemperatur auf der Luftseite [∘C] 𝜗𝑜 Ölsumpftemperatur [∘C] Formelzeichen, lateinische Buchstaben 𝑎 Koeffizient in Nußelt-Korrelation [-] 𝑎1 Parameter in der Reibmoment-Approximation [Nm·min] 𝑏0 Parameter in der Reibmoment-Approximation [-] 𝑏1 Parameter in der Reibmoment-Approximation [min] 𝑏2 Parameter in der Reibmoment-Approximation [min2] 𝐵DN Berührbreite der Dichtkante im Neuzustand [mm] 𝑐 Federrate der Schraubenzugfeder [N/mm] 𝑑 Durchmesser [mm] 𝑑𝐿 Innendurchmesser der Dichtlippe [mm] 𝑑𝑊 Durchmesser der Welle [mm] 𝐹 Kraft [N] 𝐹𝑅 Reibkraft [N] 𝐹𝑟 Radialkraft [N] ℎ𝐷 Abstand von der Anlagefläche der Dichtkante zur Bodenseite in Achsrichtung gemessen, vgl. [DIN3761-1] [mm] ℎ𝑟𝑒𝑙 Relative Füllstandshöhe des abzudichten Fluids (bezogen auf Wellenmitte) [-] 𝐾𝑎 Koeffizient des Korrekturterms [-] 𝐾𝑜 Koeffizient des Wärmeabfuhr-Widerstands [-] 𝑙𝐻 Hebelarm [mm] viii Abkürzungen, Formelzeichen und Indizes 𝑀 Moment [Nm] 𝑚 Exponent in Nußelt-Korrelation [-] �̆� Massestrom (im Dichtspalt) [g/h] 𝑀𝑅 Reibmoment des Dichtsystems [Nm] 𝑛 Drehzahl [1/min] 𝑃 Leistung [W] 𝑝 (Kontakt-)Druck [N/mm2] 𝑃𝑅 Verlustleistung [W] 𝑄 Wärmemenge [J] �̆� Wärmestrom [W] 𝑅 Wärmeabfuhrwiderstand [K·m/W] 𝑡 Zeit [s] 𝑇𝑆 Absolute Oberflächentemperatur des Messobjekts [K] 𝑣𝑢 Umfangsgeschwindigkeit (der Welle) [m/s] 𝑥, 𝑦, 𝑧 Kartesische Koordinaten [m] Indizes a Luft, bzw. Umgebung auf der Luftseite (engl. ambient) air Luft F Auf der Fluidseite L Auf der Luftseite m gemittelt N Normal (senkrecht zur Oberfläche) o Ölsumpf bzw. Umgebung auf der Fluidseite oil Öl Abkürzungen, Formelzeichen und Indizes ix R Reibung res Resultierend RT Raumtemperatur s Welle (engl. shaft) tot Gesamt Abstract Simulative Determination of the Temperature in the Sealing Contact of Rotary Shaft Seals Rotary shaft seals (RSS) are used billions of times and represent a tribological system. In addition to the sealing ring itself, this tribological system also includes its counter surface, the fluid to be sealed and its surroundings. The function of rotary shaft seals is based on a sensitive back-pumping mechanism in the sealing contact between the sealing edge and the shaft. If this mechanism is disturbed, for example by thermal damage of the sealing edge, leakage can occur. The sealing lip of RSS can be made of different elastomer materials. RSS made of particularly temperature-resistant elastomers, such as fluorocarbon rubber (FKM), are very expensive and could possibly be banned in the future. For an economical and at the same time reliable selection of the RSS, it must therefore already be known in the design phase what temperatures will later prevail in the contact area during operation. Measuring the temperature in the sealing contact is very challenging, as it is very small and not optically accessible. In order not to change the tribological processes and the thermal behaviour of the shaft, the measurement can be carried out using infrared thermography on the air-side surface near the sealing edge. The temperature measured this way is usually lower than the temperature in the sealing contact, which is actually of interest. The temperature in the contact area is higher, the more frictional heat is generated and the poorer this heat is transferred away from the contact area. The generation and dissipation of frictional heat depend on many influencing factors with interactions. The heat generation, for example, is affected by the contact pressure of the sealing lip and friction in the contact. An exact prediction of the contact temperature is difficult due to these complex interactions. The radial load quantifies how strongly the sealing edge is pressed against the shaft surface during operation and is strongly dependent on time and temperature. For this reason, a measuring method was defined with which the radial load can be measured under conditions similar to operation. For this purpose, both the measurement and a prior 24-hour storage of xi xii Abstract the sealing ring on a mandrel are carried out at the expected oil sump temperature. A patented measuring device developed for this purpose can be used to measure the radial load under operational conditions. Friction in the sealing contact of RSS is a highly complex tribological process that is influenced by all components of the tribological system and their interactions. Friction torque measurements on test rigs with aerostatic bearings can be used to quantify the power loss of rotary shaft seals. Using so-called Gümbel curves, an attempt is made to describe the friction behaviour in dimensionless form. However, only the average contact pressure, the lubricant viscosity in the sealing gap and the angular velocity of the shaft are included in the Gümbel number used for this purpose. Other important factors, such as the surface topography of the shaft and lubricant properties that go beyond viscosity (yet to be researched) are not taken into account. For precise statements on the frictional torque or power loss of a specific sealing system, frictional torque measurements are required. Frictional torque and Gümbel curves of similar sealing systems can only be used as a first approximation for a rough estimate. A simulation method was developed with which the temperature field in the sealing system and its surroundings can be simulated. This can be used to determine the temperature in the sealing contact. The CHT method (Conjugate Heat Transfer) is used, in which the „clas- sical“ fluid flow simulation (CFD) is extended to include the calculation of heat conduction in adjacent solids. The simulation software used is ANSYS with the components CFX (for the fluid flow simulation) and Workbench (for controlling the simulation workflow). A three-dimensional model is used and the multiphase flow is modeled using the VOF (Volume of Fluid) method in order to take systems into account that are only partially filled with the fluid to be sealed. The system boundaries of the simulation model are defined at some distance from the contact area so that the boundary conditions can be specified as precisely as possible. The generation of frictional heat and the temperature dependence of the fluid viscosity are integrated into the simulation model by user-defined functions. Geometric features, operating conditions and material properties can be varied simply and systematically by parameterization. For validation, a comparison was made with extensive measurement data obtained by infrared thermography: At the thermography measurement spot (air-side surface of the sealing edge near the sealing contact), the deviation between simulation and measurement is smaller than the measurement accuracy of the thermographic camera used. This leads to the conclusion that the simulated temperatures in the sealing contact (which cannot be validated directly) also correspond well with reality. The ExACT method was developed as an extended approximation method xiii for estimating the contact temperature. It is based on a thermal equivalent model of the sealing system and its surroundings and takes a total of 8 influencing factors into account: oil sump temperature, ambient air tempe- rature, power loss, shaft diameter, rotational speed or circumferential speed of the shaft, thermal conductivity of the shaft, viscosity of the oil (in the sump) and relative oil fill level. This means that the ExACT method covers a significantly wider range of applications and offers a higher accuracy than previous approximation methods. The ExACT method can be a simple alternative to the significantly more complex simulations and measurements. The InsECT calculation tool was developed to make the ExACT method easy to use. InsECT offers an intuitive graphical user interface and can be used as a web application directly in a web browser without installation. InsECT has a modular structure. Several methods can be selected to deter- mine power loss and temperature rise. The physically motivated ExACT method is recommended for the temperature rise and for the power loss the empirical friction model based on the socalled Guembel curve. Both the simulation method and the InsECT calculation tool with the ExACT approximation method it contains have now been used in practice several times. The calculation tool in particular is regularly used in industry to assess the risk of thermal damage without time-consuming and costly test bench tests or simulations. This proves that the a handy and sufficiently accurate method was developped for estimating the contact temperature of rotary shaft seals. Further research could, for example, concentrate on improving the ma- thematical description of the friction of rotary shaft seals. This would also further improve the accuracy of temperature predictions based on this. 1 Einleitung Häufig sind technische Produkte nicht ausreichend dicht, d. h. die Leckage überschreitet die zulässige Menge. Beispielsweise zählen Ölverluste von Mo- tor und Antrieb zu den fünf häufigsten Mängeln bei der Hauptuntersuchung von Kraftfahrzeugen in allen Altersklassen [TÜV19]. Bei dynamischen Dichtsystemen – und insbesondere bei Radial-Wellen- dichtungen – führen neben Vorschäden am Dichtkörper oder dessen Gegen- lauffläche insbesondere tribologische Schäden zur Leckage [Bau21b]. Die tribologischen Schäden lassen sich grob in Verschleiß und thermisch-bedingte Schadensmechanismen unterteilen. Aktuelle Trends zu Elektrifizierung (mit- tels schnell drehender Elektromotoren), Leichtbau, Miniaturisierung und Leistungssteigerung führen zu einer Steigerung der Temperatur im Betrieb. Dadurch erhöht sich das Risiko thermisch-bedingter Schäden weiter. Ver- stärkt wird diese Gefahr durch den geplanten bzw. evtl. auch erzwungenen Verzicht auf hochtemperaturbeständige Fluorpolymere in den Dichtungs- werkstoffen. Motivation hierfür ist das mögliche Verbot von PFAS1 in der Europäischen Union, das derzeit diskutiert wird [Ste23]. 1.1 Problemstellung Vor diesem Hintergrund spielt die Betriebstemperatur bei der Auslegung von Radial-Wellendichtungen und der konstruktiven Gestaltung ihres Umfeldes eine zentrale Rolle. Thermisch besonders kritisch ist der Kontaktbereich, wo sich Elastomer-Dichtlippe und Welle berühren. Aufgrund von Reibung treten dort die höchsten Temperaturen auf. Ausfälle von Radial-Wellendichtungen durch thermische Schädigung lassen sich nur vermeiden, wenn die Kontakt- temperatur den zulässigen Bereich nicht übersteigt. Konstrukteure können Radial-Wellendichtungen nur dann sicher und zu- gleich wirtschaftlich auslegen, wenn sie bereits im Konstruktionsprozess wissen, welche Kontakttemperatur später im Betrieb auftreten wird. Dies ist häufig aber leider nicht der Fall: Auf Messungen der Kontakttempera- tur muss verzichtet werden, weil Prototypen oder Messausrüstung fehlen. Bisherige Abschätzverfahren sind ziemlich ungenau, da sie die vielfältigen Einflussfaktoren auf die Reibung im Dichtkontakt und die Wärmeabfuhr an die Umgebung nur unvollständig abbilden. 1Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen. Dazu zählen auch Fluorpolymere. 1 2 1 Einleitung Die Auslegung von Radial-Wellendichtungen ist bislang also entweder mit hohem Aufwand für Messungen oder mit großer Unsicherheit beim Abschätzen behaftet. Eine schnelle und zugleich genaue Vorhersage der Kontakttemperatur von Radial-Wellendichtungen existiert bis dato nicht. 1.2 Zielsetzung Genau hier setzt die vorliegende Arbeit an. Sie soll Möglichkeiten aufzei- gen, wie die Temperatur im Kontaktbereich von Radial-Wellendichtungen möglichst einfach und trotzdem genau bestimmt werden kann: • Hierzu soll eine Simulationsmethode entwickelt werden, mit der zu- künftig auf Messungen verzichtet werden kann. • Außerdem soll ein erweitertes Näherungsverfahren entwickelt werden, das eine genauere Temperaturbestimmung ermöglicht als bisherige Abschätzverfahren. • Zuletzt soll das erweitere Näherungsverfahren in einem intuitiven Berechnungstool umgesetzt werden, um eine einfache und schnelle Anwendung zu ermöglichen. 1.3 Aufbau der Arbeit Diese kumulative Dissertation enthält im Kern 8 Publikationen (P1 bis P8), die thematisch sortiert sind. Jeder Publikation ist ein kurzer Abschnitt vorangestellt, der diese in den Gesamtzusammenhang der Dissertation ein- ordnet. Außerdem folgt nach jeder Publikation eine kurze Zusammenfassung. Darüber hinaus erfolgt eine allgemeine Einleitung in das Thema zur Einord- nung in den wissenschaftlichen Gesamtzusammenhang sowie abschließend eine Zusammenfassung der kompletten Arbeit. Drei weitere Publikationen (P9 bis P11), die Randaspekte näher beleuchten, sind der Vollständigkeit halber dieser Arbeit im Anhang angefügt. Eine Auflistung aller 11 Publikationen ist am Anfang des Lite- raturverzeichnisses auf Seite 201f aufgeführt. Bild 1.1 illustriert den Aufbau dieser Arbeit, inklusive einer Einordnung der Publikationen. Kapitel 2 stellt die Grundlagen dar. Kapitel 3 und 4 beschäftigen sich mit der Wärmeentstehung und behandeln Radialkraft und Reibmoment. Kapitel 5 umreist die Messung der Kontakttemperatur, bevor zwei Kapitel zur Wärmeabfuhr folgen: Kapitel 6 beschreibt die Entwicklung und Validierung einer Simulationsmethode zur Bestimmung der Kontakt- temperatur. Kapitel 7 leitet das erweiterte Näherungsverfahren „ExACT“ her und vergleicht dieses mit bestehenden. Kapitel 8 stellt das Berechnungs- tool „InsECT“ vor. Kapitel 9 beschreibt die praktische Anwendung der Simulationsmethode und des Berechnungstools bevor in Kapitel 10 eine Zusammenfassung folgt. 1.3 Aufbau der Arbeit 3 7.3f Vergleich mit anderen Näherungsverfahren W ä rm e - e n ts te h u n g W ä rm e a b fu h r 2. Grundlagen 4. Reibwärme (Reibmoment) 3. Anpressung der Dicht- lippe (Radialkraft) 6. Numerische Simulation 6.1f Entwicklung der Simulationsmethode 6.3f Validierung der Simulationsmethode 8 . B e re c h n u n g s to o l In s E C T 10. Zusammenfassung 7. Analytisches Näherungs- verfahren ExACT Temperatur im Kontaktbereich 5. Messung der Kontakttemperatur P2 P6 P1 P3 P4 P 8 P5 P9 7.1f Herleitung des Näherungsverfahrens P 7 9 . P ra k ti s c h e A n w e n d u n gP10 P 1 1 1. Einleitung Bild 1.1: Aufbau dieser Arbeit 2 Grundlagen Das folgende Kapitel stellt die Grundlagen dar, die für das Verständnis dieser Arbeit wesentlich sind. Insbesondere soll es die beiden folgenden Leitfragen beantworten: Wie funktionieren Radial-Wellendichtungen? und Warum ist die Temperatur in deren Kontaktbereich so wichtig? 2.1 Aufgabe von Dichtungen Dichtungen haben die Aufgabe, den Fluidaustausch („Leckage“) zwischen zwei Räumen, die eine gemeinsame, häufig auch bewegte Wand aufweisen, auf ein zulässiges Maß zu reduzieren, Bild 2.1 [MueNau98] [MueHa15]. Da absolute Dichtheit dabei nicht zu erreichen ist1, muss für jeden Anwendungs- fall eine zulässige Leckage definiert werden, innerhalb der die Dichtung als technisch dicht gilt [MueNau98, S. 2]. - ruhend - bewegt Raum 1 Austausch verhindern Raum 2Dicht- element ruhendDichtzone Umgebungs- fluid abzudicht. Fluid Bild 2.1: Schematische Darstellung der Dichtungsaufgabe [Bau21b] 1Alle Werkstoffe weisen eine gewisse Permeabilität auf, d. h. die Moleküle des abzu- dichtenden Fluids können durch die Komponenten des Dichtsystems diffundieren. Absolute Dichtheit im physikalischen Sinne ist deshalb unmöglich. 5 6 2 Grundlagen 2.2 Dynamische Dichtungen Bewegt sich die gemeinsame Wand, an der der Fluidaustausch reduziert werden soll, handelt es sich um eine dynamische Dichtstelle2. Die hierfür ver- wendeten Dichtungen werden dynamische Dichtungen genannt, die entweder berührungsfrei oder berührend ausgeführt sind: • Bei berührungsfreien Dichtsystemen wird mittels thermodynamischen und strömungsmechanischen Effekten der unerwünschte Stoffaustausch an der Dichtstelle reduziert. • Bei berührenden Dichtsystemen wird ein nachgiebiges Dichtelement verpresst und gegen die abzudichtenden Teile gedrückt, dass sowohl in- terne Poren als auch mikroskopische Spalte zwischen Dichtelement und den abzudichtenden Teile möglichst vollständig verschlossen werden. Jede berührende dynamische Dichtung ist ein tribologisches System [Bau21b], das aus dem Dichtelement an sich, dessen Gegenlauffläche, dem abzudich- tenden Fluid und der Umgebung besteht. Deshalb werden berührende dynamische Dichtungen im Folgenden als Dichtsysteme bezeichnet. 2.3 Wellendichtungen Wellendichtungen sind dynamische Dichtsysteme, bei denen die gemeinsame Wand eine Drehbewegung ausführt. Häufig handelt es sich bei dem rotieren- den Teil um eine Welle, die aus einem System (z.B. Getriebe) heraus ragt. Aufgabe von Wellendichtungen ist es, solche Austrittsstellen abzudichten, d. h. Schmier- und Betriebsstoffe in dem System und Verschmutzungen außerhalb dieses Systems zu halten. Neben Gleitringdichtungen und Stopfbuchsen werden hierzu häufig Radi- al-Wellendichtungen eingesetzt [Horve96, S. iii], bei denen eine Dichtlippe radial nach innen an die rotierende Welle angepresst wird. Typische An- wendungsbeispiele für Radial-Wellendichtringe sind beispielsweise Industrie- und Fahrzeuggetriebe [NBRNF19]. 2.4 Radial-Wellendichtungen mit Elastomer-Dichtlippe Als Ersatz für Dichtringe mit Ledermanschette entwickelte Walter Sim- mer bei der Firma Freudenberg den Radial-Wellendichtring mit Elastomer- Dichtlippe, der auch als „Simmerring“ bezeichnet wird [DE729128]. Ra- dial-Wellendichtringe mit Elastomer-Dichtlippe (RWDR) sind in nationa- len [DIN3760], [DIN3761] und internationalen Normen [ISO6194] genormt. 2Das Gegenteil sind statische Dichtstellen, bei der die Wand ruht. 2.4 Radial-Wellendichtungen mit Elastomer-Dichtlippe 7 RWDR werden milliardenfach eingesetzt: Allein der Hersteller Freudenberg produziert mehr als 200 Mio. Stück pro Jahr [FST18]. 2.4.1 Aufbau Ein RWDR besteht aus einem metallischen Versteifungsring, an den ein Elas- tomerteil anvulkanisiert ist, Bild 2.2. Bei der Montage wird die Dichtlippe aufgedehnt und die relativ scharfe Dichtkante auf die Welle gedrückt. Eine metallische Zugfeder verstärkt die Anpressung der Dichtkante an die Welle. Dadurch entsteht eine zylinderförmige Kontaktfläche, die im Neuzustand eine Berührbreite von 𝐵DN ≈ 0, 06 mm bis 0, 1 mm aufweist [Bau21b]. Lu�seiteFluidseite Welle Dichtringaufnehmer Dichtring Federhebelarm hf Zugfeder Membran Versteifungsring Nebenabdichtung Dichtlippe β Dichtzone α Berührbreite Neu BDN Verschleißbreite BDV Laufspurbreite BLS der Gegenlauffläche der Dichtkante D} Bild 2.2: Radial-Wellendichtring im Einbau-Zustand (Schematische Schnitt- darstellung) [Bau21b] 2.4.2 Funktionsweise Radial-Wellendichtungen sind – bei entsprechender Gestaltung des Dichtsys- tems – sowohl statisch (d. h. bei Stillstand der Welle) als auch dynamisch (d. h. bei drehender Welle) dicht. Statische Abdichtung Statische Dichtheit wird erreicht, indem die Dichtkante ausreichend stark an die Wellenoberfläche gepresst wird, wobei die mittlere Flächenpressung 𝑝𝑚 in der Größenordnung von ca. 1 MPa liegt [MueNau98, S. 77]. Das weiche Elas- tomermaterial wird dadurch in die mikroskopischen Rauheitsvertiefungen auf der Welle gedrückt und verschließt diese. Damit wird der Fluidaustausch zwischen Luft- und Ölseite im Stillstand praktisch verhindert. 8 2 Grundlagen Hydrodynamische Schmierfilmbildung Im Betrieb bildet sich zwischen Dichtkante und Wellenoberfläche ein hauch- dünner Schmierfilm: Durch Kapillarkräfte gelangt das abzudichtende Fluid zwischen Dichtkante und Wellenoberfläche. Die rotierende Welle schleppt das anhaftende Fluid mit, wobei sich an den mikroskopischen Rauheitserhebun- gen der Dichtkante ein hydrodynamischer Druck aufbaut. Dadurch entsteht der sogenannte Dichtspalt, der Dichtkante und Wellenoberfläche voneinander trennt und übermäßigen Verschleiß des Dichtsystems verhindert. Dynamischer Rückfördermechanismus Eine direkte experimentelle Analyse der Strömungsvorgänge im Dichtspalt ist aufgrund seiner geringen Abmessungen nicht möglich. Deshalb basieren alle Funktionsprinzipien auf Schlussfolgerungen aus „makroskopischen“ Sys- tembeobachtungen [Bau21b]. Diese zeigen, dass eine aktive Pumpwirkung („Rückfördermechanismus“) das Austreten vom abzudichten Fluid aus dem Dichtspalt verhindert. Das allgemeinste und wichtigste physikalische Funktionsprinzip zur Erklä- rung dieses Rückfördermechanismus ist das sogenannte Verzerrungsprinzip, das auf Kammüller [Kamm86] zurück geht. Weitere Funktionsprinzipien [Bau21b] erläutern darüber hinaus „Spezialfälle“: Das Wischkantenprin- zip beschreibt beispielsweise die Rückförderwirkung bei Schiefstellung der Dichtkante, das Umlenkprinzip die Wirkungsweise von hydrodynamischen Rückförderstrukturen auf dem RWDR oder „Drall“ [Baum17] auf der Welle. Verzerrungsprinzip Für das Verzerrungsprinzip, das in Bild 2.3 dargestellt ist, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein [Bau21b]: • Die Pressungsverteilung an der Dichtkante muss asymmetrisch sein, wobei das Pressungsmaximum zur Fluidseite verschoben ist, a) in Bild 2.3. Dies wird dadurch erreicht, dass der fluidseitge Kontaktwinkel 𝛼 größer als der luftseitige Winkel 𝛽 ist3. • Die Dichtkante muss nach dem Einlauf an ihrer Oberfläche spezifische Verschleißstrukturen aufweisen, b) in Bild 2.3. • Diese Verschleißstrukturen müssen weich, elastisch und verzerrbar sein. 3Die Aussage bezieht sich auf den Einbauzustand! 2.4 Radial-Wellendichtungen mit Elastomer-Dichtlippe 9 Sind diese Voraussetzung erfüllt, wird die Dichtkantenoberfläche im Betrieb durch die tangential wirkende Reibkräfte/Schubspannungen asymmetrisch verzerrt, c) in Bild 2.3. Dadurch bilden sich mikroskopische Pumpstrukturen ähnlich einer Gewindewellendichtung [MueHa15], wobei die Pumpwirkung jeweils zur Mitte hin gerichtet ist, d) in Bild 2.3. Aufgrund der Asymmetrie sind die Strukturen auf der Luftseite länger und damit die Pumpwirkung auf der Luftseite �̆�𝐿 größer als die auf der Fluidseite �̆�𝐹 . Dadurch ergibt sich insgesamt eine resultierende Rückförderwirkung �̆�𝑟𝑒𝑠 = �̆�𝐿 − �̆�𝐹 von der Luft- zur Fluidseite, e) in Bild 2.3. Dichtkante Pressung- verteilung b) c) d) e) ṁres ω βα ṁF ṁL a) Bild 2.3: Schematische Darstellung des Verzerrungsprinzips, nach [GFB22a] Sind die Bedingungen für das Verzerrungsprinzip nicht mehr erfüllt, kann das Dichtsystem seine Abdichtfunktion verlieren. Die Verschleißstruktu- ren auf der Dichtkante müssen auch im Betrieb zwingend weich, elastisch und verzerrbar bleiben. Schadensmechanismen, die die Elasti- zität der Dichtkante und ihrer Verschleißstrukturen beeinträchtigen, sind unbedingt zu vermeiden! 2.4.3 Schadensmechanismen Bauer [Bau21b] unterscheidet Schäden am Dichtsystem nach dem Zeitpunkt und Ort des Auftretens: Schäden, die bereits vor dem Betrieb entstanden sind (beispielweise bei Herstellung, Lagerung, Transport oder Montage) werden als Vorschäden klassifiziert. Schäden, die erst im Betrieb des Dichtsystems auftreten, werden als tribologische Primärschäden4 bezeichnet. Beide Scha- densarten können sowohl an der Dichtkante als auch an der Gegenlauffläche auftreten - folglich ergeben sich insgesamt vier Schadensklassen. 4Die Bezeichnung Primärschaden soll verdeutlichen, dass ein zeitlich zuerst eingetre- tener Schaden weitere Schäden verursachen kann. 10 2 Grundlagen Die folgende Betrachtung beschränkt sich auf tribologische Primär- schäden der Dichtkante. Weitere Schadensmechanismen und -bilder sind in [Bau21b] und [PreVo08] aufgeführt. Tribologische Primärschäden der Dichtkante Bauer [Bau21b] unterteilt diese in die drei Hauptkategorien • Mechanische Schadensmechanismen, • Mechano-thermische Schadensmechanismen und • Physio-chemische Schadensmechanismen. Zu den mechanischen Schadensmechanismen gehören alle Schäden, die nicht durch zu hohe Temperatur oder durch physio-chemische Mechanismen entstehen. Sie sind auf starken oder „besonderen“ Verschleiß zurückzuführen. Die beiden anderen Schadensmechanismen treten erst bei „erhöhter Tem- peratur“ [Bau21b] auf. Sie werden deshalb in dieser Arbeit unter dem Begriff der thermischen Schädigung zusammengefasst. Thermische Schädigung der Dichtkante Im Folgenden wird die thermische Schädigung kurz umrissen. Eine ausführ- liche Beschreibung gibt [Bau21b]. Mechano-thermische Schadensmechanismen Zur Klasse der mechano- thermische Schadensmechanismen gehören die Elastomer-Verhärtung und Rissbildung5 sowie die Ablagerung von Ölkohle. Die Elastomer-Verhärtung selbst (und damit der Verlust der Elastizi- tät) ist schwer erkennbar. Häufig wird deshalb die Verfärbung als Indikator für die Verhärtung herangezogen. Die weitere Steigerung der Verhärtung ist schließlich die axiale Rissbildung. Bild 2.4 zeigt unterschiedliche stark verfärbte Dichtkanten. Mit steigender Umfangsgeschwindigkeit (und damit stärkerem Wärmeeintrag) sowie mit zunehmender Laufzeit nimmt die Ver- färbung zu. Dabei war das Dichtsystem bei 15 m/s Umfangsgeschwindigkeit nach 500 Stunden so stark geschädigt, dass Leckage auftrat. Die Ablagerung von Ölbestandteilen wird als Ölkohle bezeichnet und in [Dinz00] beschrieben. Die Ölkohle kann sich entweder in löslicher oder fest anhaftender Form an und neben6 der Dichtkante ablagern. Wird eine grenzwertige Ansammlung überschritten, wird die Verzerrung der Dichtkante behindert und/ oder diese angehoben oder es dringen Ölkohlepartikel in den Dichtspalt ein [Bau21b]. Dadurch wird der Dichtmechanismus gestört und Leckage ermöglicht! Bild 2.5 zeigt eine Dichtkante mit fest anhaftender Ölkohle. 5in axialer Richtung 6auf der Luftseite 2.4 Radial-Wellendichtungen mit Elastomer-Dichtlippe 11 5 m·s-1 10 m·s-1 15 m·s-1 24 h 500 h100 h 240 h 0,2 mm � = 80 °C Ö ls e it e Lu ft se it e Bild 2.4: Verfärbung von NBR-Dichtkanten (gereinigt) in Abhängigkeit von Laufzeit und Umfangsgeschwindigkeit (Tropfensymbol kennzeich- net Leckage) [FVA969I] Bild 2.5: Anhaftende Ölkohle [Bau21b] 12 2 Grundlagen Physio-chemische Schadensmechanismen Physio-chemische Schäden tre- ten bei erhöhter Temperatur auf. Einige dieser Schäden lassen sich bereits durch statistische Einlagerungstests identifizieren. Dazu wird die Verände- rung von Masse, Volumen, Elastomerhärte, Reißfestigkeit und Reißdehnung an Elastomerproben gemessen, die sich durch deren Einlagerung über ei- ne definierte Zeit unter Temperatur in eine Flüssigkeit ergeben können [Goe-E10], [Rich21]. Ist die Veränderung der o.g. Kenngrößen in den stati- schen Einlagerungsversuchen unauffällig, sind anschließend tribometrische Versuche erforderlich, um die dynamische Funktion zu beurteilen. Eine Beurteilung der Öl-Elastomer-Verträglichkeit alleine auf Basis statischer Einlagerungsversuche ist nicht möglich, [Adl17], [Bau21b]! Zu den physio-chemischen Schadensmechanismen zählt das Quellen des Elastomers: Dringt Flüssigkeit in das Elastomer ein, verändert sich dessen Geometrie sowie Deformierbarkeit. Dies kann die konstruktiv beabsichtig- te Funktion beeinträchtigen und in Kombination mit hoher Temperatur Leckage ermöglichen [Bau21b]. Quellung macht sich beispielsweise durch einen „welligen“ Verlauf und/oder stark schwankende Berührbreiten der Dichtkante erkennbar. Ein weiterer physio-chemischer Schadensmechanismus ist die Blasenbil- dung, bei der sich im Bereich der Dichtkante unter der Elastomeroberfläche fluidgefüllte Hohlräume bilden. Diese werden im Betrieb „aufgepumpt“ und stören entweder durch diese Deformation die Dichtfunktion und/oder plat- zen, wodurch sich ein Leckagekanal bildet, Bild 2.6. Blasenbildung wird nur bei additivierten Ölen und zumeist an FKM-Dichtringen beobachtet. Blasenbildung tritt erst bei Überschreiten einer bestimmten Temperatur auf [Bau21b]. Lu�seite Blase Durch Verschleiß geöffnete Blase Verschlissene Oberfläche der geöffneten Blase Ölkohle in offener Blase Bild 2.6: Blasen der gleichen Dichtkante in verschiedenen Zuständen: Gefüllt, aufgeplatzt, mit Ölkohle gefüllt [Bau21b] 2.4 Radial-Wellendichtungen mit Elastomer-Dichtlippe 13 2.4.4 Werkstoffauswahl Aufgrund der dargestellten Schadensmechanismen spielt die Temperatur im Dichtkontakt und Faktoren, die diese beeinflussen, eine entscheidende Rolle bei der Auswahl von Radial-Wellendichtungen. Angebotene Compounds Seitens der Hersteller steht eine Vielzahl verschiedener Radial-Wellendicht- ringe zur Verfügung, die sich neben der Bauform vor allem im Elastomer- werkstoff unterscheiden. Elastomere sind Mehrkomponentensysteme, die bei der Vulkanisation durch Vernetzung entstehen [Rinn06]. Die Elasto- mermischung (häufig als „Compound“ bezeichnet) enthält im Wesentlichen das eigentliche Polymer, Füllstoffe (zur Verstärkung), Vernetzungsmittel so- wie Weichmacher und weitere Verarbeitungshilfsmittel. Für RWDR werden hauptsächlich Compounds auf Basis von Acrylnitril-Butadien-Kautschuk (NBR) und Fluor-Kautschuk (FKM) eingesetzt. In Fahrzeuggetrieben findet darüberhinaus Acrylat-Kautschuk (ACM) Verwendung. Die Dichtring-Hersteller verfügen über eine Vielzahl an Elastomer-Mi- schungen. Neben einigen häufig-verwendeten Standard-Mischungen [FST15], [Trell23], [Par10], [SKF13] verfügen Hersteller darüber hinaus über mehrere hundert Sonder-Mischungen [FST24], die jeweils für Spezialanwendungen optimiert sind. Meist wird von den Dichtungsherstellern nur das Basispo- lymer einer Elastomer-Mischung angegeben, selten auch noch die Art des Vernetzungsmittels oder Füllstoffs. Funktionale Aspekte Die angebotenen Elastomer-Compounds unterscheiden sich hinsichtlich ih- rer technischen Eigenschaften teilweise stark und decken so einen breiten Anwendungsbereich ab. Hauptkriterien sind in der Regel die Verträglichkeit mit dem abzudichtenden Fluid und der Temperaturbereich. Oft wird bei Angaben zum Einsatzbereich (Temperatur und Verträglichkeit mit abzudich- tendem Fluid) lediglich zwischen den Basis-Polymeren (NBR, FKM, etc.) unterschieden [Rinn06], [Trell23], [Par10], [SKF13]. Eine Übersicht über die von Herstellern empfohlenen Einsatztemperaturen ist in Tabelle 2.1 zusam- mengefasst. Aufgrund der teilweise erheblichen Unterschiede innerhalb dieser Werkstoff-„Familien“ und nicht prognostizierbarer chemischer Wechselwir- kungen, müssen die jeweiligen Einsatzgrenzen eines spezifischen Compounds mit einem bestimmten Fluid versuchstechnisch ermittelt werden. Wirtschaftliche Aspekte Die Preise für Rohkautschuke schwanken marktbedingt und unterscheiden sich stark nach Sorte. FKM war im Zeitraum 2010 bis 2019 durchschnittlich 14 2 Grundlagen Hersteller NBR HNBR ACM MVQ FKM Freudenberg [FST15, S. 36] 100 100 130 k.A. 150 kurzzeitig (140) (200) Trelleborg [Trell23, S. 45f] 100 140 150. 230 200 Parker [Par10, S. 13] 100 140 k.A. 200 200 SKF [SKF13, S. 31ff] 100 150 150 160 200 kurzzeitig bzw. einige Fluide (120) (175) Tabelle 2.1: Empfohlene obere Grenzwerte für die Einsatztemperatur von RWDR [in ∘C] etwa um den Faktor 8,7 teurer als NBR, Bild 2.7. Bei Elastomerdichtungen beträgt der Materialanteil im Schnitt 40% der Herstellkosten [FST16]. Ent- sprechend sind Dichtelemente aus FKM deutlich teurer als solche aus NBR; bei O-Ringen beispielweise um den Faktor 5 [Parco13, Fig. 7]. Ebenso sind auch RWDR aus FKM deutlich teurer als vergleichbare aus NBR7. RWDR aus FKM werden deshalb – insbesondere in der Großserienfertigung – nur dann eingesetzt, wenn es technisch erforderlich ist. 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 re la ti ve r P re is ( b e z o g e n a u f N B R ) NBR ACM FKM Bild 2.7: Relativer Preis von ACM und FKM bezogen auf NBR (Daten aus [DICHT]) 7Nach grober Schätzung des Autor liegt der Faktor für RWDR grob bei 2. 2.5 Wärmebilanz im Dichtsystem 15 Regulatorische Aspekte Darüber hinaus führt das mögliche PFAS-Verbot in der Europäischen Union bereits jetzt zu Bemühungen, Fluor-Kautschuk als Dichtungswerkstoff durch fluor-freie Alternativen zu ersetzen [Ste23]. 2.5 Wärmebilanz im Dichtsystem Der folgende Abschnitt soll einen Überblick über die Wärmebilanz im Dichtsystem geben. Die Leitfragen lauten: Wie entsteht im Dichtkontakt Wärme? Wie wird die Wärme aus dem Kontaktbereich abgeführt? Im Folgenden werden die Mechanismen von Wärmeentstehung und Wärme- übertragung zuerst separat beleuchtet. Anschließend erfolgt eine System- betrachtung, in der auch die gegenseitigen Wechselwirkungen verdeutlicht werden. 2.5.1 Wärmeentstehung im Dichtkontakt Im Dichtkontakt tritt Gleitreibung auf, wenn sich die rotierende Welle relativ zur Dichtkante bewegt. Dadurch wird ein Teil der Bewegungsenergie der Welle durch Dissipation in Reibwärme umgewandelt8 und/oder für Verschleiß aufgewendet, wobei letzteres im Folgenden vernachlässigt wird. Der im Kontaktbereich dissipierte Wärmestrom �̆� (d. h. die Wärmemenge 𝑄 pro Zeiteinheit Δ𝑡) entspricht unter dieser Annahme der mechanischen Verlustleistung 𝑃𝑅 (teilweise auch Reibleistung genannt), �̆� = 𝑃𝑅, (2.1) wobei die Reibleistung als Produkt aus der Winkelgeschwindigkeit 𝜔 der Welle und dem sogenannten „Reibmoment“ 𝑀𝑅 dargestellt werden kann, 𝑃𝑅 = 𝜔 · 𝑀𝑅 = 2𝜋 · 𝑛 · 𝑀𝑅. (2.2) Das Reibmoment ist das Resultat der im Kontaktbereich mit dem hal- ben Wellendurchmesser 𝑑/2 als Hebelarm in Umfangsrichtung wirkenden Reibkraft 𝐹𝑅, 𝑀𝑅 = 𝑑 2 · 𝐹𝑅. (2.3) 8In der Physik kann keine Energie erzeugt oder vernichtet werden. Dennoch wird gelegentlich davon gesprochen, dass Reibwärme „entsteht“. Gemeint ist damit stets die Umwandlung von Bewegungsenergie in Wärmeenergie aufgrund von Reibung. 16 2 Grundlagen Zur Beschreibung der Reibkraft kann das Coulomb’sche Gesetz heran- gezogen werden, das bei Gleitreibung „in erster grober Näherung“ [Pop10] eine Proportionalität zwischen der Reibkraft 𝐹𝑅 und der Normalkraft 𝐹𝑁 annimmt, 𝐹𝑅 = 𝜇 · 𝐹𝑁 . (2.4) Der Proportionalitätsfaktor wird dabei als (Gleit-)Reibungskoeffizient9 𝜇 (oder 𝑓) bezeichnet. Wie später (in Abschnitt 3.1) erläutert wird, entspricht bei Radial- Wellendichtungen die sogenannte Radialkraft 𝐹𝑟 der Normalkraft. Zusammengefasst lässt sich der im Kontaktbereich entstehende Wärme- strom mathematisch in folgender Form beschreiben: �̆� = 𝑃𝑅 = 𝜋 · 𝑛 · 𝑑 · 𝜇 · 𝐹𝑟. (2.5) Es entsteht also umso mehr Reibwärme, je schneller die Welle dreht (Wel- lendrehzahl 𝑛), je größer der Wellendurchmesser 𝑑, je schlechter die Schmie- rung des Kontaktbereichs (höherer Reibungskoeffizient 𝜇) und je stärker die Dichtlippe an die Wellenoberfläche gepresst wird (höhere Radialkraft 𝐹𝑟). Wie später gezeigt wird, verbergen sich hinter dem Schmierungszustand des Kontaktbereichs weitere Einflussfaktoren wie beispielsweise Fluideigenschaf- ten (z.B. Viskosität) und die Oberflächenstruktur der Welle. Details zur Anpressung der Dichtlippe an die Wellenoberfläche folgen in Kapitel 3. Mit der daraus resultierenden Reibwärme und der messtechnischen Bestimmung des Reibmoments beschäftigt sich Kapitel 4 genauer. 2.5.2 Thermisches Gleichgewicht Durch die Reibwärme steigt die Temperatur im Kontaktbereich so lange, bis sich ein thermischer Gleichgewichtszustand einstellt, in dem die dissiperte Leistung („erzeugter“ Reibwärmestrom10) genauso groß ist wie der aus dem Kontaktbereich an die Umgebung abgeführte Wärmestrom. Die Temperatur im Kontaktbereich ist dabei umso höher, je mehr Reib- wärme im Kontaktbereich entsteht und je schlechter diese aus dem Kontakt- bereich abgeführt werden kann. 9In dieser Arbeit wird lediglich Gleitreibung (bei rotierender Welle), nicht aber Haft- reibung (bei Anfahrvorgängen) betrachtet. Im weiteren wird deshalb vereinfachend nur von „Reibung“ gesprochen. Gemeint ist damit stets die Gleitreibung. 10Dieser Wärmestrom wird vereinfachend nur als Reibwärme bezeichnet. 2.5 Wärmebilanz im Dichtsystem 17 2.5.3 Wärmeabfuhr aus dem Dichtkontakt Bevor auf die spezifischen Besonderheiten bei der Wärmeabfuhr aus dem Dichtkontakt eingegangen wird, wird zuerst die Wärmeübertragung im allgemeinen umrissen. Arten der Wärmeübertragung Wärme kann prinzipiell auf drei verschiedene Arten übertragen werden: • Wärmeleitung: Wärmeleitung ist der Wärmefluss in Festkörpern und Fluiden aufgrund eines Temperaturunterschiedes. Die Wärme fließt dabei gemäß des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik stets von der höheren zur niedrigeren Temperatur. Je nach Stoff erfolgt die Wärmeleitung durch Gitterschwingungen (in elektrisch isolierenden Festkörpern), durch Elektronen (in elektrisch leitenden Festkörpern) oder durch Stöße zwischen den Molekülen (bei Fluiden). Mathematisch wird die Wärmeleitung durch das Fourier’sche Gesetz beschrieben, 𝑞 = �̆� 𝐴 = 𝜆 · Δ𝜗 Δ𝑥 (2.6) wonach die Wärmestromdichte 𝑞, also auf die Querschnittsfläche 𝐴 bezogene Wärmestrom �̆� das Produkt aus der Wärmeleitfähigkeit 𝜆 des übertragenden Stoffs und dem Temperaturgradienten (Verhältnis aus Temperaturdifferenz Δ𝜗 und Abstand Δ𝑥) ist. • Konvektion: Als Konvektion bezeichnet man den Wärmetransport durch ein sich bewegendes Fluid. Die Bewegung kann dabei alleine durch temperaturbedingte Dichteunterschiede innerhalb des Fluids ent- stehen (sogenannte „freie Konvektion“) oder durch andere Umstände verursacht werden („erzwungene Konvektion“). Als „Wärmeübergang“ wird die Wärmeübertragung von einem Festkörper an ein Fluid be- zeichnet, wobei hier Wärmeleitung und Konvektion zusammenwirken. • Wärmestrahlung: Jeder Körper oberhalb des absoluten Nullpunkts emittiert Wärme in Form von elektromagnetischer Strahlung. Um- gekehrt wird die auf einen Körper auftreffende Strahlung entweder absorbiert (d. h. aufgenommen), reflektiert oder transmittiert (d. h. hindurchgelassen). Wärmestrahlung ist nicht an Materie gebunden und findet auch durch ein Vakuum statt. Der abgestrahlte Wärme- strom ist proportional zur vierten Potenz der absoluten Temperatur (siehe Stefan-Boltzmann-Gesetz in Abschnitt 5.2.3). Deshalb wird Wärmestrahlung häufig erst bei sehr hohen Oberflächentemperaturen relevant. 18 2 Grundlagen Im Weiteren wird die Wärmeübertragung durch Strahlung vernach- lässigt – wohlwissend, dass die zur Temperaturmessung verwendete Infrarot-Thermografie (siehe Abschnitt 5.2) ohne Wärmestrahlung nicht möglich wäre! Wärmeabfuhr aus dem Dichtkontakt Der Dichtspalt ist (im Vergleich zu seiner extrem niedrigen Höhe) in Achs- und Umfangsrichtung relativ langestreckt. Aufgrund der großen Mantelfläche wird die meiste Wärme in radialer Richtung abgeführt. Da die Wärmeleit- fähigkeit von Elastomeren etwa um 2 Größenordnungen kleiner ist als die von üblichen Wellenwerkstoffen (vgl. Anhang A.1.3) wird die Wärme zum größten Teil über die Welle abgeführt [PreVo08]. Gemäß des Fourier’schen Gesetzes hängt die Wärmeableitung dabei einerseits von der Wärmeleitfä- higkeit des Wellenwerkstoffs sowie vom Querschnitt der Welle (d. h. dem Durchmesser und der geometrischen Ausführung, beispielsweise als Voll- oder Hohlwelle, [Brink73]) ab. Die Wärmeabfuhr durch das abzudichtende Fluid basiert auf erzwun- gener Konvektion und wird hauptsächlich von der Strömung bestimmt. Wellendrehzahl, Füllstand und Viskosität des Fluids sowie die konstruktive Gestaltung des Dichtungsumfeldes beinflussen diese. Zusätzlich erfolgt eine Wärmeabfuhr in Richtung Umgebungsluft, die von der dort vorherrschenden Strömung abhängt. Die Umgebungstemperaturen (Ölsumpftemperatur auf der Fluidseite und Lufttemperatur auf der Luftseite) wirken sich auf die Wärmeabfuhr in die jeweilige Richtung aus: Je kühler die Umgebung, umso besser ist die Wärmeabfuhr. 2.5.4 Einflussfaktoren und Wechselwirkungen Die bereits erläuterten Einflussfaktoren auf Wärmeentstehung und Wärme- abfuhr sind in Bild 2.8 visualisiert. Zwischen einigen dieser Einflussfaktoren bestehen Wechselwirkungen. Die wichtigste davon resultiert aus der starken Temperaturabhängigkeit der Viskosität, wenn Öle abgedichtet werden, vgl. Anhang A.1.1. Dadurch wirkt sich die Kontakttemperatur direkt auf die Öl- viskosität im Dichtspalt aus, die ihrerseits wiederum direkt die Schmierung und damit die entstehende Reibwärme beinflusst. Oft werden diese komplexen Zusammenhänge bei der Auswahl von RWDR stark vereinfacht. Die DIN-Normen für Radial-Wellendichtringe [DIN3760], [DIN3761] geben den thermischen Grenzbereich11 in einem Diagramm le- diglich als Funktion von Basis-Elastomer, Umfangsgeschwindigkeit und Wellendurchmesser an, Bild 2.9. Alle anderen Einflussfaktoren bleiben unbe- rücksichtigt. 11Die Grenzkurven können als Isothermen der Kontakttemperatur interpretiert werden. 2.5 Wärmebilanz im Dichtsystem 19 Alterung des Elastomers Drehzahl der Welle Leckage Entstehung der Reibwärme Ölstand (Füllhöhe) Viskosität des Öls im Spalt Schmierungszustand Ausfall der Maschine Anpressung der Dichtlippe Abfuhr der Reibwärme Wärmeleitung durch WelleWärmeabfuhr durchs Öl Wärmeabfuhr durch Luft Dichtspalttemperatur Zeit Ölströmung Luftströmung luftseitiges Einbau-Umfeldölseitiges Einbau-Umfeld Grundviskosität des Öls Oberflächenstruktur Welle Wälzlager ÖlsumpftemperaturLagerreibung SchleuderscheibePrallblech Ölkanäle Viskositätsindex des Öls Schmierstoffangebot an DR Wärmeleitfähigkeit Welle Voll- oder Hohlwelle Wellendurchmesser Ölverschäumung RadialkraftÖldruck Wellengestaltung (Absätze, Bünde etc.) Lufttemperatur Bild 2.8: Einflussfaktoren auf die Temperatur im Dichtkontakt [FBH14] 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200 Wellen-Ø mm U m fa n g sg e sc h w in d ig ke it m /s FKM MVQ ACM NBR RWDR nicht ver- wenden Bild 2.9: Empfohlene Einsatzgrenzen für Radial-Wellendichtringe aus Basis- Elastomeren nach [DIN3761-2] aus [Bau21b] 20 2 Grundlagen 2.6 Zusammenfassung Radial-Wellendichtungen sind milliardenfach eingesetzte Dichtsysteme, de- ren Funktion auf einem empfindlichen Rückfördermechanismus basiert. Wird diese Funktion gestört – beispielweise durch eine thermische Schädigung der Dichtkante – kann Leckage auftreten. Dichtungshersteller bieten RWDR aus unterschiedlichen Elastomerwerk- stoffen an. Besonders hohe Betriebstemperaturen ermöglichen RWDR aus Fluorkautschuk (FKM). Diese sind aber sehr teuer und könnten in Zukunft möglicherweise verboten werden. Für eine wirtschaftliche und zugleich funktionssichere Auswahl des RWDRs muss bereits in der Konstruktionsphase bekannt sein, welche Temperaturen später im Betrieb herrschen werden. Die höchsten Temperaturen treten im Kontaktbereich des Dichtsystems auf, da dort Reibwärme entsteht. Die Kontakttemperatur ist umso höher, je mehr Reibwärme entsteht und je schlechter die Reibwärme an die Umgebung abgeführt werden kann. Entstehung und Abfuhr der Reibwärme hängen von vielen Einflussfakto- ren mit gegenseitigen Wechselwirkungen ab. Eine genaue Prognose der Kontakttemperatur ist deshalb schwierig. 3 Anpressung der Dichtlippe (Radialkraft) Wie in Abschnitt 2.5.1 erläutert, hängt die im Kontaktbereich entstehende Reibwärme stark davon ab, wie stark die Dichtlippe an die Wellenoberfläche angepresst wird. Die Leitfrage dieses Kapitels lautet deshalb: Wie stark wird die Dichtkante im Betrieb an die Wellenoberfläche angepresst? Als Antwort auf diese Frage beschreibt dieses Kapitel, wie die Radialkraft von RWDR zustande kommt, wovon diese abhängt und wie sie am besten gemessen wird. 3.1 Definition der Radialkraft Bei Radial-Wellendichtungen entspricht die sogenannte Radialkraft 𝐹𝑟 der Normalkraft zwischen Dichtkante und Welle. Nach DIN 3761-1:1984-01 [DIN3761-1] ist die „Radialkraft eines RWDR“ 𝐹𝑟 „die Summe aller radial auf die Oberfläche der abzudichtenden Welle wirkenden Kraftkomponen- ten der Dichtlippe“. Sie ist also das Integral des Kontaktdrucks über der gesamten Kontaktfläche. Gemäß DIN 3761-1 sind bei der Radialkraft Abweichung von ±30% für NBR, FPM und MVQ sowie ±35% für ACM zulässig1. 3.2 Entstehung der Radialkraft Hersteller moderner Radial-Wellendichtringe versuchen, die Radialkraft gerade so groß auszuführen, wie für eine sichere Abdichtung erforderlich ist [MueHa15, S. 26]. 3.2.1 Überdeckung Die Dichtlippe weist im Neuzustand gegenüber dem Wellendurchmesser ein Untermaß auf. Die Durchmesserdifferenz zwischen Wellendurchmesser 𝑑𝑊 und dem Innendurchmesser der Dichtlippe 𝑑𝐿 wird als Überdeckung 𝛿 bezeichnet, Bild 3.1. 1Die Werte gelten für Durchmesser 𝑑 über 50 mm. Für Durchmesser im Bereich von 25 bis 50 mm ist die zulässige Abweichung jeweils um 5 Prozentpunkte, bis 25 mm Wellendurchmesser um insgesamt 10 Prozentpunkte höher. 21 22 3 Anpressung der Dichtlippe (Radialkraft) d W d L d L < d W Bild 3.1: Überdeckung der Dichtlippe [Bau21b] Die Überdeckung wird vom Dichtungshersteller in Abhängigkeit des An- wendungsfalls und des Wellendurchmessers gewählt. In Industrieanwendun- gen kommen höhere Überdeckungen als im Automobilbau zur Anwendung. Außerdem steigt mit zunehmendem Wellendurchmesser die Überdeckung. Bei 50 mm Wellendurchmesser liegt die Überdeckung im Bereich von ca. 1 mm, bei 150 mm Durchmesser in der Größenordnung von 2 mm [Bock17]. Beim Aufziehen des Dichtrings auf die Welle wird die Dichtlippe aufge- dehnt, woraus eine Anlagekraft an die Welle resultiert, Bild 3.2. Bild 3.2: Montage eines Radial-Wellendichtrings [Bau21b] Die rein aus der Dichtlippe resultierende Radialkraft kann sich aufgrund des Materialverhalten stark ändern. Elastomere zeigen im Vergleich zu metallischen Werkstoffen eine sehr viel stärkere Wärmedehnung [Par15] sowie ein ausgeprägtes thermo-viskoelastisches Materialverhalten [Gram02], [Leich12]. Durch Spannungsrelaxation wird der Radialkraftanteil, der durch das Aufdehnen der Elastomer-Dichtlippe entsteht, mit der Zeit immer gerin- ger [Goe-E05]. Ebenso nimmt die Radialkraft mit zunehmender Temperatur ab [Goe-E05]. 3.2 Entstehung der Radialkraft 23 3.2.2 Federunterstützung Um über die gesamte Lebensdauer und über einen breiten Temperaturbe- reich eine möglichst konstante Anpressung der Dichtkante zu gewährleisten, werden meist zusätzlich metallische Schraubenzugfedern eingesetzt. Diese werden in eine nutförmige Vertiefung der Dichtlippe eingelegt (vgl. Bild 2.2) und zusammen mit dieser bei der Montage auf die Welle aufgedehnt. Dadurch unterstützen sie deren Anpressung an die Welle. Die Schraubenzugfedern sind so gestaltet, dass die Federkraft nur wenig von ihrer Aufdehnung ab- hängt. Dazu wird eine Vorspannkraft in die Feder „eingewickelt“ [Goe-E05]. Beim Aufdehnen der Feder lösen sich die einzelnen Federwindungen erst dann voneinander, wenn diese Vorspannkraft überschritten wird [MSK15]. Außerdem wird die Federgeometrie so gewählt, dass sich eine relativ geringe Federrate 𝑐 ergibt, Bild 3.3. Damit liefert die Feder im Betrieb einen rela- tiv konstanten Beitrag zur Radialkraft, der nahezu unanhängig von Zeit, Temperatur und etwaigen Fertigungstoleranzen ist. Feder- radius r Federkraft F rF in radialer Richtung r 0 r M Vorspannkraft F r0 Zustand, wenn RWDR auf Welle montiert F rM Federkennlinie unbelasteter Zustand Feder- rate c r 1 Bild 3.3: Federkennlinie der Zugfeder (schematisch) Die Götzewerke (Friedrich Goetze AG, Burscheid) entwickelten 1965 ein Vorgehen, mit dem sich der effektive Anteil der Schraubenzugfeder an der Radialkraft ermitteln lässt [DE1299440]. Hierzu wird eine Messung mit und ohne Feder durchgeführt und aus der Differenz der Messergebnisse die effektive Radialkraft der Feder berechnet. Die effektive Radialkraft der Feder ist geringer als die Radialkraft der Feder alleine, da beim Federvorgang Reibung zwischen den einzelnen Windungen und der Dichtlippe auftritt und überwunden werden muss [DE1299440]. 24 3 Anpressung der Dichtlippe (Radialkraft) 3.2.3 Zusätzliche Erhöhung durch Druck Im Betrieb kann es zu einer zusätzlichen Erhöhung der Radialkraft kommen, wenn fluidseitig ein Überdruck oder luftseitig ein Unterdruck entsteht. Da die druckbeaufschlagte Fläche deutlich größer als die Kontaktfläche ist, reichen bereits relativ geringe Drücke (im Bereich von Zehntel bar) um die Radialkraft signifikant zu erhöhen [IMA15-11]. Beide Effekte werden im Folgenden nicht weiter betrachtet, können in Einzelfällen aber praktische Bedeutung haben, beispielsweise bei Wälzlagern mit Pumpwirkung (ölsei- tiger Überdruck) oder berührenden Schutzlippen (luftseitiger Unterdruck) [FKM619]. 3.3 Radialkraftmessung Um die Anpressung der Dichtlippe an die Welle zu quantifizieren, wurden verschiedene Messverfahren entwickelt. Manche liefern nur ein indirektes Maß, wie z.B. den (von der Lippengeometrie abhängigen) Druck, der auf der Fluidseite angelegt werden muss, bis die Dichtlippe abhebt [US3188855]. Andere Verfahren deformieren die Dichtlippe nur lokal, um Kraft- bzw. Stei- figkeitsunterschiede über dem Umfang zu ermitteln, beispielweise indem ein Messstift (Ø3 mm) gegen die Dichtlippe gedrückt wird, während der RWDR langsam rotiert [SakOb01]. Üblicherweise wird heute die Radialkraft nach dem Zwei-Backen-Prinzip gemessen, das in DIN 3761-9 [DIN3761-9] beschrie- ben ist und frühere Messverfahren verdrängte. Dazu zählt beispielsweise das von den Götzewerken (Friedrich Goetze AG, Burscheid) vorgeschlage- ne Messen der axialen Reaktionskraft beim Einschieben eines rotierenden Kegels in den Dichtring [DE1866544], [DE1187041], [DE1211818]. 3.3.1 Radialkraftmessung nach dem Zwei-Backen-Prinzip Beim Zwei-Backen-Prinzip wird die Kraft gemessen, mit der zwei halbzy- linderförmige Messbacken zusammengedrückt werden, wenn ein Dichtring auf diese aufgeschoben wird (siehe auch nachfolgende Publikation P1 in Abschnitt 3.5). Das Prinzip geht auf Schmitt (Fa. Freudenberg, Weinheim) zurück. In seiner Vorrichtung ist eine Messbacke fest und die andere auf einem federnden Arm angebracht. Die Auslenkung des Arms wird abgegriffen und dient als Maß für die zu messenden Kraft [DE1573500], [DE1169157]. Benne (Fa. KACO, Heilbronn) ergänzte die Messvorrichtung um eine zweite Blattfeder, Bild 3.4 [DE2747262]. Dadurch entsteht eine Parallelfüh- rung wodurch der Dichtkantenabstand ℎ𝐷 (Abstand von Anlagefläche der Dichtkante zur Bodenseite) bzw. die davon abhängige freie Biegelänge das Messergebnis nicht mehr beeinflusst. 3.3 Radialkraftmessung 25 Prinzipbedingt erfordert dieser Messaufbau eine Relativverschiebung der beiden Messbacken zueinander. Die Radialkraft wird also nicht in dem Zustand gemessen, in dem die Dichtlippe vollständig bis auf den Nennumfang aufgedehnt wird, sondern in einem Zustand, bei dem die Dichtlippe nicht vollständig aufgedehnt wird. Um den Messfehler in akzeptablen Grenzen zu halten, wird die maximale Nachgiebigkeit in DIN 3761-9 festgelegt: Die Backen dürfen sich in der Dichtkantenebene maximal um 0,3 𝜇m pro 1 N Radialkraft aufeinander zu bewegen [DIN3761-9]. Bild 3.4: Messvorrichtung nach [DE2747262] 3.3.2 Weiterentwicklung des Radialkraft-Messgeräts Am Institut für Maschinenelemente (IMA) wurde ein erweitertes Radialkraft- Messgerät konzipiert und konstruiert [IMA14-11], aufgebaut, [IMA15-24] programmiert [IMA16-05] sowie nach intensiver Erprobung erweitert und optimiert [IMA18-18]. Dieses Messgerät ermöglicht die Messung der Radial- kraft nach dem Zwei-Backen-Prinzip, wobei die Dichtlippe erstmals exakt auf das Nennmaß aufgedehnt wird. Der bekannte Messaufbau wird dazu um einen Linearaktuator und einen Abstandsensor zwischen den beiden Messbacken erweitert, wodurch nun zum ersten Mal eine Regelung des Backenabstands ermöglicht wird, Bild 3.5. Mit dieser patentrechtlich geschützen Erfindung [DE102019108064] kann zum einen der Fehler korrigiert werden, der sich aus der prinzipbedingten Verformung des Kraftsensors ergibt („Automatische Durchmesserkompensa- 26 3 Anpressung der Dichtlippe (Radialkraft) bewegliche Messbacke ortsfeste Messbacke Abstands- sensor Trenn- spalt Parallelführung (Blattfedern) Kraftaufnehmer Linearaktuator Dicht- ring Gebläse Widerstandsheizkörper Temperierkammer Spann- pratzen ortsfeste Grundplatte bewegliche Grundplatte Bild 3.5: Temperierbares Radialkraft-Messgerät (Prinzipskizze) tion“). Dies ist insbesondere bei sehr steifen Dichtringen von Vorteil, deren Radialkraft sich stark reduziert, wenn sie nicht vollständig auf das Nenn- maß aufgedehnt werden. Zum andern kann mit der Vorrichtung gezielt der Backenabstand variiert werden. Damit kann das Aufschieben des Dichtrings auf die Messbacken bzw. das anschließende Abziehen erleichtert werden („Montagehilfe“). Ebenso kann damit die Radialkraft gezielt bei anderen Backenabständen als dem Nennmaß gemessen werden. Zusätzlich umfasst das weiterentwickelte Messgerät eine Temperierkammer, die Messungen bei Temperaturen zwischen −30 und +150 ∘C ermöglicht [IMA-102090]. 3.4 Einflussfaktoren auf die Radialkraft-Messung Die DIN 3761-9 beschreibt die Messung der Radialkraft nach dem Zwei- Backen-Verfahren, lässt dabei aber an einigen Stellen Interpretationsspiel- raum. Im Rahmen der Normüberarbeitung wurde am Institut für Maschi- nenelemente (IMA) in einer Parameterstudie untersucht, welchen Einfluss die Eigenschaften des Messgeräts, die Ausführung der Messbacken und die Gestaltung des Messvorgangs auf das Messergebnis haben. Die Studiener- gebnisse samt daraus abgeleiteter Empfehlungen sind in der nachfolgenden Publikation P1 [P1] enthalten. 3.5 Publikation P1 zur Radialkraft (TuS 2021) 27 3.5 Publikation P1 zur Radialkraft (TuS 2021) Auf den nächsten Seiten folgt Publikation P1 [P1], die nach Begutachtung in der Fachzeitschrift „Tribologie und Schmierungstechnik“ erschienen ist und die Radialkraft-Messung unter betriebsähnlichen Bedingungen beschreibt. Die in der Publikation dargestellten Ergebnisse sowie die Empfehlungen flossen in die Überarbeitung von DIN 3761-9 ein. Introduction Many applications require seals that retain lubricants or other fluids within machines. In applications with rota- ting shafts, radial lip seals are widely used [1], [2]. The radial lip seal, the surface of the shaft and the fluid, which has to be sealed, form a tribological system. Elas- tomeric radial lip seals are standardized in national and international standards [3], [4], [5]. They consist of a metal insert to which a sealing lip is attached, Figure 1. During assembly on the shaft, the sealing lip and a garter spring are elastically widened. The sealing lip is pressed against the shaft surface, so that a narrow contact area is formed. The contact pressure in the contact area signifi- cantly affects the function of the sealing system and is thus of huge interest. However, the spatial distribution of the contact pressure is not easy to measure. Therefore, the radial load Fr is used as an alternative to quantity the contact in an integral manner. Mathemati- cally, the radial load is defined according to DIN 3761-1 [6] as the integral of the load exerted by the sealing lip perpendicular to the shaft surface. Practically, the radial load is mostly measured using the so-called split-shaft method, Figure 2. This method is described in the Ger- man standard DIN 3761-9 [7] and involves two nearly half-cylindrical parts called “mandrel” representing the Aus Wissenschaft und Forschung 5Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 3-4/2021 How to measure the radial load of radial lip seals Simon Feldmeth, Mario Stoll, Frank Bauer* Vorgetragen auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Tribologie vom 28. bis 30. September 2020 Eingereicht: 15.9.2020 Nach Begutachtung angenommen: 25.6.2021 Die Radialkraft eines Radial-Wellendichtrings (RWDR) gibt an, wie stark dessen Dichtlippe an die Welle an- gedrückt wird. Die Radialkraft beeinflusst das Funk- tionsverhalten des RWDR maßgeblich. Die DIN 3761-9 beschreibt die Messung der Radialkraft nach dem Zwei-Backen-Verfahren, lässt dabei aber Inter- pretationsspielraum. Im Rahmen der Normüberar- beitung wurde am Institut für Maschinenelemente (IMA) der Universität Stuttgart in einer Parameterstudie untersucht, welchen Einfluss die Eigenschaften des Messgeräts, die Ausführung der Messbacken und die Gestaltung des Messvorgangs auf das Messergebnis haben. Basierend auf den Studienergebnissen werden Empfehlungen abgeleitet und in einem Best-Practi- ce-Leitfaden zusammengefasst, der eine zielgerichtete und reproduzierbare Messung der Radialkraft er- möglichen soll. Schlüsselwörter Radial-Wellendichtring, Radialkraft, DIN 3761-9, Radialkraft-Messung, Radialkraft-Messgerät, Mess- verfahren, Empfehlung, Best-Practice-Leitfaden The radial load of a radial lip seal indicates how stron- gly the sealing lip is pressed on the shaft. The radial load significantly affects the function of the seal. The German standard DIN 3761-9 describes the measure- ment of the radial load according to the split-shaft method but leaves room for interpretation. During the revision of the standard, a parameter study was con- ducted at the University of Stuttgart. This study ana- lyses the influence of the measurement device, the mandrels and the measuring procedure on the results. Based on the study results, recommendations are de- rived and summarized in a best-practice guideline, which should enable an appropriate and reproducible measurement of the radial load. Keywords Radial Lip Seal, Radial Load, DIN 3761-9, Radial Load Measurement, Radial Load Measuring Device, Measuring Method, Recommendation, Best Practice Guideline Kurzfassung Abstract * Dipl.-Ing. Simon Feldmeth Orcid-ID: https://orcid.org/0000-0003-0018-0710 Dr.-Ing. Mario Stoll Orcid-ID: https://orcid.org/0000-0001-7091-2396 PD Dr.-Ing. Frank Bauer Orcid-ID: https://orcid.org/0000-0001-7799-7628 Universität Stuttgart Institut für Maschinenelemente (IMA) Pfaffenwaldring 9, 70569 Stuttgart www.ima.uni-stuttgart.de pairs of leaf springs support the movable mandrel and allow it to move frictionless in the measuring direction. An improved measuring device was developed and built at the University of Stuttgart, Institute of Machine Com- ponents (IMA): A position sensor and a linear actuator were added to realize a position control of the movable mandrel, Figure 3. This control system allows control- ling the position of the mov able mandrel and thus the ef- fective diameter of the mandrels during the measurement (“Automatic Diameter Control”, ADC). This en sures that the mandrels widen the sealing lip to the correct cir- Aus Wissenschaft und Forschung 6 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 3-4/2021 shaft. One of the mandrels is fixed; the other one is mo- vable in the measuring direction. A load cell measures the force Fm, with which the two mandrels are pressed together in the measuring direction by the sealing lip. The radial load is obtained by multiplying the measured load with the factor of pi. Measuring Devices DIN 3761-9 [7] specifies a device for measuring the ra- dial load based on the split-shaft method, Figure 4. Two air sidefluid side fluid garter spring membrane shaft metal insert housing contact area radial lip seal Ø d sealing lip shaft surface sealing edgeradial load Figure 1: Cross section of a radial lip seal movable mandrel stationary mandrel position sensor gap width frictionless parallel guidance (leaf springs) interchangeable load cell actuator seal ring clamping shoes stationary base movable base Ød sl id in g di st an ce h m * * hm = height of measuring position measured load Figure 3: Schematic diagram of the improved measuring device radial load Fr movable mandrel stationary mandrel projected radial load measured load Fm = Fr / � Ød gap measuring direction Figure 2: split-shaft measuring method cumference. Additionally, the control system offers fea- tures such as the so-called “Mounting Assistant” which can be used to move the mandrels temporarily to each other in order to facilitate the mounting process. More - over, an optimized clamping system for the mandrels was implemented which allows users to change and ac- curately align the mandrels without any tools. Exis ting mandrels manufactured for the standard device (Figu- re 4) can be used with a clamping adapter. There are two versions of the improved measuring de - vice, Figure 5 and 6: A compact tabletop version al - lowing mobile measurements and a version with tempe- rature chamber allowing measurements in a range of -30 … 150 °C. Additionally, the temperature-con trolled device contains four interchangeable load cells with dif- ferent measuring ranges. Measuring Procedure DIN 3761-9 [7] defines the measuring procedure only in a very rough manner. Since this standard does not des- cribe the procedure in detail, a huge variety of different measuring procedures arose during the past 30 years. Some companies and research institutes defined their own internal measuring standards. At the Institute of Machine Components (IMA), several methods have been developed which are suited to answer a wide varie- ty of specific question. These methods comprise the pre- conditioning of the seal and the measuring procedure: • Method A: For quality control (especially applicable on many seals), one single measure ment per seal at room temperature with a defined measuring time of 10 s is sufficient. • Method B: Performing 5 measurements per seal ac- cording to Method A and ave ra ging of the 2nd to the 5th measured values is statistically more accurate and corres ponds more to the installation conditions. The seal has to be rotated by 90° between each single mea- surements. • Method C: Storing the seal for 24 hours on an unsplit mandrel of nominal diameter before performing a mea- surement according to Method B provides the radial load after assembly and before operation. Due to the visco elas tic stress relaxation, this radial load is gene- rally lower than that measured without storing the seal on a mandrel. • Method D: In order to obtain the radial load during operation, both the storing and the mea sure ment accor- ding to Method C have to be performed at the operating tem pe ra ture. This method provides the “real” radial load of the seal, which is even lower due to an accele- rated relaxation and the thermal expansion of the seal - ing lip. Analysed Parameters Currently, the standard DIN 3761 [4] is under revision. In order to update and improve the instructions and re- commendations for measuring the radial load a compre- hensive analysis of the measuring procedure is per - formed at the University of Stuttgart. In this analysis, Aus Wissenschaft und Forschung 7Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 3-4/2021 Figure 4: Standard device Figure 5: Tabletop IMA device Figure 6: Temperature-controlled IMA device 0.7 N (1.7 %). The arithmetic mean was 38.7 N corres- ponding to a radial load related to the circumference of 0.15 N/mm. In order to identify even small influences of the varied parameters a special test plan was developed to reduce the influence of disturbance variables. For this purpose, the parameter study was divided into several test series, in which one or two parameters were varied systemati- cally. Test series with contradictory results were repeat - ed. In each test series, 4 to 8 different parameter combi- nations were analysed. In order to eliminate sequence effects that might occur due to the viscoelastic material behaviour during one test series, the 20 seals were divid - ed into several groups of equal size. For each group, another sequence of the parameter combinations was used. At the end, the radial load was averaged over all groups, i.e. all 20 seals. Using Method B, each radial load value shown in the following is based on 20 x 4 = 80 individual measurements. Aus Wissenschaft und Forschung 8 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 3-4/2021 12 parameters influencing the radial load are varied sys- tematically. They can be sorted in 3 groups regarding the measuring device, the mandrels and the measuring pro- cedure. Table 1 lists all varied parameters. The default settings are underlined. Test Material and Test Procedure The analysis was performed using 20 identical radial lip seals without protection lip according to DIN 3760 [3], Table 2. Many repeated measurements (using the procedure des- cribed in the following paragraph) show that the measu- rement results fluctuate even if all parameters – inclu- ding the test person – remain the same. Repeating the sa- me measurement (with the default settings listed in Tab- le 1) for 19 times in a period of 21 months, there was a difference between minimum and maximum of all mea- surements of 1.9 N (4.9 %) and a standard deviation of Parameters of Group 1: Measuring Device Measuring device “Standard” device*, Tabletop IMA device, Temperature-controlled IMA device Load cell (maximum radial load) LC2 (150 N), LC3 (600 N), LC4 (3000 N) Automatic Diameter Control (ADC) On, Off Mandrel offset (relative to the nominal diameter) 0 µm, -100 µm, -200 µm (only negative offsets to avoid overstretching of sealing lip) Parameters of Group 2: Measuring Mandrels Mandrel surface (mean roughness depth measured in axial direction) Steel turned (Rz 3.3), aluminium turned (Rz 5.1), aluminium anodized (Rz 7.7) Sliding distance of sealing edge on mandrel cylinder** 11 mm, 21 mm, 31 mm Height of measuring position hm** 7 mm, 27 mm Gap width between mandrels** 0.2 mm,1.0 mm, 2.0 mm, 4.0 mm Parameters of Group 3: Measuring Procedure Mounting direction Air side ahead, fluid side ahead Mounting motion Straight, with 30° rotation during mounting Lubricant Dry (no lubricant), FVA reference oil No. 3 Temperature of seal rings before measurement 8 °C, 21.5 °C, 35 °C Table 1: Varied parameters (default settings are underlined) Dimension 80x100x10 [mm] Manufacturer Freudenberg Sealing Technologies, Weinheim, Germany Profile BAUM5X7 Material 75 FKM 585 (fluoroelastomer) Year of Production 2014 (Best before 2024) Garter spring All measurements were performed with original garter spring Table 2: Radial lip seals * manufactured by Hottinger Baldwin Messtechnik in 1986 according to DIN 3761-9:1984 ** see Figure 3 for definition Results Parameters of Group 1: Measuring Device A) Measuring Device Figure 7 compares the radial load measured with the three different measuring devices described above. For a proper comparison, the Automatic Diameter Control was deactivated at the two IMA devices. A mandrel pair with an anodized aluminium surface and a clamping in- terface for the standard interface was used. A clamping adapter was used to mount this mandrel pair at the two IMA devices. The three measuring devices show a good agreement width a deviation of less than 4 % (related to the temperature-controlled IMA device). B) Automatic Diameter Control and Mandrel Offset Figure 8 shows the influence of the Automatic Diameter Control (ADC) and the mandrel offset. Activating the Automatic Diameter Control (with zero mandrel offset), the radial load is 8.9 % higher since the sealing lip is now widened to the nominal circumference. Additionally, the actuator can be used to set a defined offset of the mandrels. A negative offset of the mandrels corresponds to reducing the distance (gap) between the two man drels. Moving the mandrels together reduces the effective circumference of the mandrels and decrea- ses the radial load with a rate of 3.7 N per 100 µm offset in radial direction (for the case with ADC). C) Load Cell (Maximum Load/ Stiffness) Figure 9 shows the influence of the load cells which can be easily exchanged using the tem pe rature-controlled IMA device. Activating the Au to matic Diameter Control (ADC), there is no signi fi cant difference (lower than 1.8 %) between the different load cells. Without ADC, the radial load increases with an increasing mea suring range. The higher the measuring range and accor dingly the stiffness of the load cells, the less the mandrels move towards each other and the smaller the reduction of the effective circum ference. The difference between the stiff - est load cell LC4 (130µm/3000N radial load) and the sof- ter load cell (LC2, 180 µm/150N radial load) is 2.9 %. Parameters of Group 2: Measuring Mandrels D) Surface of the Mandrels Figure 10 shows the radial load measured with different mandrel surfaces. The radial load is highest with anodizes aluminium (Rz 7.7) and lowest with turned steel (Rz 3.3). With turned aluminium mandrels (Rz 5.1), the radial load is in between. Independent of the lubrication, the radial load increases with increasing roughness. The difference related to turned aluminium is -1.6 % (turned steel) and Aus Wissenschaft und Forschung 9Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 3-4/2021 32.5 34.3 33.5 20 25 30 35 40 45 standard device tabletop IMA device temp. controlled IMA device ra di al lo ad [N ] Figure 7: Influence of measuring devices 31.7 32.4 34.7 33.4 34.0 37.8 20 25 30 35 40 45 -200 -150 -100 -50 0 ra di al lo ad [N ] mandrel offset [μm] without ADC with ADC Figure 8: Influence of Automatic Diameter Control (ADC) and mandrel offset 34.6 35.5 35.7 37.2 36.7 37.4 20 25 30 35 40 45 LC2 LC3 LC4 ra di al lo ad [N ] without ADC with ADC Figure 9: Influence of load cells (LC) +0.1 % (anodized aluminium) or with lubricant -0.6 % (turned steel) and +2.2 % (anodized aluminium). E) Sliding Distance on Mandrels and Height of Measuring Position Figure 11 shows the radial load measured with different sliding distances. Spacer rings were mounted on the mandrels to reduce the distance that the sealing edge sli- des over the mandrels cylinder before reaching the mea- suring position. Increasing the sliding distance from 11 to 31 mm decreases the radial load by 4.5 %. A further measurement with 11 mm sliding distance was perfor- med, whereby the axial height of the measuring position was increased by 20 mm. This measurement provides the same result (difference below 0.1 N) and thus shows that only the sliding distance influences the radial load. F) Gap Width of Mandrels Figure 12 shows the radial load measured with mandrels that have the same diameter but different gap widths. The result is the same both with and without Automatic Diameter Control (ADC): The mandrels with a gap of 1.0 mm show the lowest radial load. De crea sing the ra- dial load to 0.2 mm increases the radial load. Increasing the gap width to 2.0 and 4.0 mm increases the radial load as well. With ADC, the difference between 4.0 and 1.0 mm is 4.4 %. The difference between 2.0 or 0.2 mm and 1.0 mm is only about 1.3 %. Parameters of Group 3: Measuring Procedure G) Mounting Direction and Mounting Motion Figure 13 shows the radial load obtained with different mounting directions and mounting motions. Rotating the seal by approximately 30° while sliding on the mandrels the radial load reduces by 1.7 %. Mounting the seal with Aus Wissenschaft und Forschung 10 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 3-4/2021 37.6 37.8 38.6 36.2 36.8 36.8 20 25 30 35 40 45 turned turned anodized steel aluminium ra di al lo ad [N ] with oil dry Figure 10: Influence of mandrel surface 38.4 38.1 36.7 38.4 20 25 30 35 40 45 0 10 20 30 40 ra di al lo ad [N ] sliding distance [mm] 7 mm 27 mmheight hm: Figure 11: Influence of sliding distance and height of measuring position 37.0 33.4 37.7 20 25 30 35 40 45 air side ahead fluid side ahead ra di al lo ad [N ] 30° rota�on straight Figure 13: Influence of mounting direction and mounting motion 33.8 32.4 34.0 34.8 35.3 34.8 35.2 36.3 20 25 30 35 40 45 0 1 2 3 4 ra di al lo ad [N ] gap width [mm] without ADC with ADC Figure 12: Influence of gap width the fluid side ahead (and rotating the seal to avoid a buckling of the sealing lip) reduces the radial load by 9.7 %. H) Lubrication Figure 14 shows the radial load measured with dry and oil wetted mandrels. Lubricating the mandrels increases the radial load by 2.7 % (with ADC) or 2.1 % (without ADC). I) Temperature The seal rings were tempered for several hours before the measurement at 8 °C (refrigerator), 21.5 °C (room tem- perature) and 35 °C (heating oven). The measuring devi- ce and the mandrels were always at room temperature. The seals were taken out of the refrigerator or tempering oven separately just before each measurement. Due to the short measuring time (10 s) and the low thermal con- ductivity of the elastomer, there was no significant tem- perature adjustment. Seals tempered at 8 °C show a radial load that is 9.1 % higher. Seals tempered at 35 °C show a radial load that is 1.9 % lower, Figure 15. Summary and Conclusion A comprehensive parameter study was performed to ana- lyse the effect of 12 parameters on the radial load mea- surement. The following conclusions can be drawn: • The results obtained with the three different measuring devices agree very well, if the Automatic Diameter Control (ADC) is deactivated. • The radial load presses the two mandrels together resul- ting in a lower distance of the mandrels and thus a lower effective circumference of the sealing lip. This results in a lower radial load due to the lower widening of the sealing lip. This effect is greater with softer load cells as they allow the mandrels to move more to each other. The stiffness of the load cell must not be too high. Due to their working principle, load cells with strain gauges must provide a certain amount of elasticity. • Therefore, the Automatic Diameter Control (ADC) is a useful feature. The ADC can compensate for the finite stiffness of the measuring chain (including the load cell) and thus allowing precise measurements of the “real” radial load at nominal effective circumference of the sealing lip. • It is important to use defined mandrels with the same surface roughness, the same height (resulting in a com- parable sliding distance) and the same gap width: The measured radial load increases with rougher sur- faces. The measured radial load decrease with longer sli- ding distances. The measured radial load is lowest for a gap width of 1.0 mm. The height of the measuring position has no influen- ce of the radial load. • During mounting the seal on the mandrels, frictional forces act on the sealing lip. Their axial components stretch/ compress and tilt the sealing lip and may alter the radial load. Lubrication, mounting direction and mounting motion affect the magnitude and orientation of the frictional forces acting on the sealing lip and thus may explain the observed influences: Lubricating the mandrels with oil increases the radial load. Rotating the seal while sliding on the mandrels re- duces the radial load. Mounting the seal with the fluid side ahead reduces the radial load drastically. • The measured radial load decreases with increasing temperature and vice versa. Aus Wissenschaft und Forschung 11Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 3-4/2021 35.0 37.1 34.3 36.1 20 25 30 35 40 45 without ADC with ADC ra di al lo ad [N ] with oil dry Figure 14: Influence of lubrication 39.6 36.2 35.6 20 25 30 35 40 45 0 10 20 30 40 ra di al lo ad [N ] temperature [°C] Figure 15: Influence of temperature measured on classical devices or on devices with deac- tivated ADC. The difference is in the order of 10 %, de- pending on the stiffness of the seal. • Ensure, that the mandrels meet the requirements defi- ned in DIN 3761-9 such as surface roughness, gap width and sliding distance. Considering these recommendations an appropriate and reproducible measurement of the radial load can be achieved. References [1] Horve, Leslie: Shaft Seals for Dynamic Applications. New York : Dekker, 1996. [2] Müller, Heinz K.; Nau, Bernard S.: Fluid Sealing Techno- logy – Principles and Applications. New York : Dekker, 1998. [3] DIN 3760. Rotary shaft lip type seals. September 1996. (in German) [4] DIN 3761. Rotary shaft lip type seals for automobiles. 15 Parts. November 1983 to January 1984. (in German, withdrawn in March 2017) [5] ISO 6194. Rotary shaft lip-type seals incorporating elas- tomeric sealing elements. 5 Parts. September 2007 to No- vember 2009. [6] DIN 3761. Part 1. Rotary shaft lip type seals for automo- biles. Terms, formula symbols, tolerances. January 1984. (in German, withdrawn in March 2017) [7] DIN 3761. Part 9. Rotary shaft lip type seals for automo- biles. Test. Radial force measuring instrument digital. Ja- nuary 1984. (in German, withdrawn in March 2017) Aus Wissenschaft und Forschung 12 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 3-4/2021 Best-Practice Guideline Based on the conclusions above, the following recom- mendations are proposed: • Choose a method that is suited for answering your spe- cific question initiating the measurement: Method A (1 single measurement at room tempera- ture with 10 seconds measuring time) for a quick quality control – especially for a high quantity of seals. Method B (repeating Method A five times per seal with rotation the seal by 90° between each measure- ment and averaging the second to the fifth measured value) for obtaining more accurate results that corres pond more to the installation conditions. Method C (with 24 h storage on unsplit mandrel be- fore measuring) for ob tai ning the radial load after assembly and before operation. Method D (Method C with storing and measuring at operating temperature) for obtaining the “real” radial load during operation. • Before measuring, store the seals at a defined tempera- ture for a sufficiently long time (several hours for com- mon seal sizes). • Perform all radial load measurements consequently without lubricant. • Always use the same mounting direction and mounting motion. For standard profiles, it is suitable to mount the seal with the airside ahead without rotation. • Use a device with an Automatic Diameter Control (ADC) to obtain the “real” radial load. Be aware that this “real” radial load is higher than the radial load 36 3 Anpressung der Dichtlippe (Radialkraft) 3.6 Zusammenfassung Bei einer Radialkraftmessung ist stets deren Zielsetzung zu berücksich- tigen, weshalb in der Publikation mehrere Messmethoden vorgeschlagen wurden: Methode A und B (sofortige Messung) erlauben weiterhin eine umgehend durchführbare und schnelle Messung, die sich hauptsächlich zur Qualitätssicherung eignet. Die Methoden C (mit 24-stündiger Lagerung des RWDR auf einem Lagerdorn) und D (Lagerung und Messung erfolgen bei Betriebstemperatur) liefern deutlich genauere Aussagen über die zu erwar- tende Radialkraft im Betrieb. Den Unterschied zwischen den Messmethoden verdeutlicht Bild 3.6: Die Radialkraft der untersuchten FKM-Dichtringe (Ø 80 mm) beträgt im „Neuzustand“ nach Methode B 40,2 N und nach 24-stündiger Auslagerung (Methode C) nur noch 31,6 N. Die Messungen nach Methode D zeigen einen linearen Abfall der Radialraft über der Tem- peratur auf 23,0 N bei 160∘C. Unter betriebsähnlichen Bedingungen nach Methode D (bei 160∘C) ist die Radialkraft also um 43% geringer als in der weit verbreiteten Messung nach Methode B! y = -0,0652x + 33,78 R² = 0,9677 0 10 20 30 40 50 0 40 80 120 160 R a d ia lk ra ft [ N ] Temperatur [°C] Methode B Methode C Methode D Linear (Methode C+D) Bild 3.6: Einfluss von Temperatur und Messmethode auf die Radialkraft (Mittelwert und Streuung von 5 RWDR) [P2] Die Anpressung der Dichtkante im Betrieb an die Wellenoberfläche kann durch Radialkraft-Messungen quantifiziert werden. Aufgrund des thermo- viskoelastischen Materialverhaltens müssen sowohl die Messung als auch die vorherige 24-stündige Auslagerung des RWDRs bei der erwarteten Ölsumpftemperatur erfolgen. Hierzu kann das am IMA entwickelte und patentierte Radialkraft-Messgerät genutzt werden. 4 Reibwärme (Reibmoment) Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den beiden folgenden Leitfragen: Wie viel Reibwärme entsteht im Dichtkontakt? bzw. Wie groß ist das im Dichtkontakt auftretende Reibmoment? Beide Leitfragen können als synonym betrachtetet werden, da der abzu- führende Wärmestrom �̆�1 gemäß Gleichung (2.1) der mechanischen Ver- lustleistung 𝑃𝑅 entspricht, und diese über die (stets bekannte) Winkelge- schwindigkeit 𝜔 bzw. die Wellendrehzahl 𝑛 direkt mit dem Reibmoment 𝑀𝑅 zusammen hängt, vgl. Gleichung (2.2). 4.1 Reibmoment-Messung Zur Messung des Reibmoments von Dichtsystemen haben sich an Forschungs- stellen Prüfstände mit aerostatisch gelagerter Prüfkammer etabliert. Diese erhöhen die Messgenauigkeit im Vergleich zu Prüfaufbauten mit Drehmo- mentmesswelle, die prinzipbedingt stets die Lagerreibung eines Wälzlagers mitmessen. 4.1.1 Reibmoment-Prüfstand Das Prinzip eines Reibmoment-Prüfstands mit aerostatisch gelagerter Prüf- kammer ist in Bild 4.1 dargestellt. Der RWDR wird über eine Dichtringauf- nahme mit der Prüfkammer verbunden. Diese ist in einem aerostatischen Gleitlager2 gelagert. Dadurch können sich Prüfkammer und Dichtring quasi reibungsfrei um die Wellenachse drehen. Ein Motor treibt über einen Keil- riemen die Spindel an, die über eine Wellenaufnahme die Wellenlauffläche aufnimmt. Die Prüfkammer stützt sich über einen Hebelarm der Länge 𝑙𝐻 auf einem Kraftaufnehmer ab, der am Gehäuse des Luftlagers montiert 1In dieser Arbeit wird anstelle der physikalisch korrekten Bezeichnung „Wärmestrom“ der umgangssprachliche Begriff „Reibwärme“ verwendet, um damit die Reibung als Ursache deutlicher hervorzuheben. Der Begriff „Reibwärme“ ist dabei aber stets als eine Wärmemenge pro Zeiteinheit, also als Wärmestrom, zu verstehen. 2umgangssprachlich auch „Luftlager“ genannt 37 38 4 Reibwärme (Reibmoment) ist. Das Reibmoment der Dichtung ergibt sich als Produkt aus gemessener Abstützkraft 𝐹𝑧 und Hebelarm 𝑙𝐻 , 𝑀𝑅 = 𝐹𝑧 · 𝑙𝐻 . (4.1) Dichtring Dichtring- aufnahme Wellen- lauffläche Kraft- aufnehmer Spindel Aerostatisches Lager Antriebsmotor Wellen- aufnahme Keilriemen Linearführung l H F Z Bild 4.1: Schematischer Aufbau eines Reibmoment-Prüfstands mit aerosta- tisch gelagerter Kammer [IMA18-85] Über eine Linearführung kann die Prüfkammer mit dem Dichtring axial verschoben werden, so dass die Laufspur des Dichtrings auf der Wellenlauf- fläche exakt eingestellt werden kann. Bild 4.2 zeigt einen Versuchsaufbau mit offenem Ölkreislauf. Das Öl wird in einem externen Temperieraggregat auf die gewünschte Tempera- tur geheizt (oder gekühlt) und dann über eine Pumpe und Rohrleitung an die Dichtstelle herangeführt um diese zu bespritzen. Je nach Höhe der Ablaufbohrung sind unterschiedliche Ölfüllstände möglich [P9]. Darüberhin- aus existieren Prüfaufbauten mit geschlossener Kammer, die insbesondere bei hohen Drehzahlen und starker Ölverwirbelung Vorteile aufweisen [P2], [FKM619]. Eine ausführlichere Beschreibung von Reibmoment-Prüfständen inklusive einer modularen Konstruktion für Hochdrehzahl-Anwendungen gibt Merkle [IMA18-85]. 4.1 Reibmoment-Messung 39 Öl Luft Temperier- aggregat Ölpumpe Bild 4.2: Schematischer Versuchsaufbau mit Ölkreislauf [IMA18-85] 4.1.2 Praktische Durchführung Für eine Reibmoment-Messung gibt es keinen fest vorgegebenen Ablauf. Dieser wird je nach Fragestellung individuell festgelegt. Im Folgenden sind Erfahrungen und Anhaltswerte aufgeführt, die in verschiedenen Forschungs- projekten und Auftragsmessungen für Industrieunternehmen gesammelt wurden. Üblicherweise erfolgt zu Beginn einer Reibmoment-Messung ein mehr- stündiger Einlauf bei einer „moderaten“ Umfangsgeschwindigkeit, um das Dichtsystem zu konditionieren und einen thermischen Gleichgewichtszustand zu erreichen. Oft ändert sich das Reibmoment am Anfang dieser Phase noch ziemlich stark. Verändert sich das Reibmoment nur noch sehr schwach3, kann ein quasi-stationärer Zustand angenommen werden. Dies ist häufig nach 4 bis 12 Stunden der Fall, Bild 4.3. Anschließend beginnt die eigentliche Messphase, in der die Drehzahl stu- fenweise gesteigert wird. Hierbei wird jede Stufe so lange gehalten, bis sich wieder ein Quasi-Gleichgewichtszustand einstellt. Je nach Dichtsystem und Höhe des Stufensprungs sind Haltedauern zwischen 15 und 30 Minuten pro Drehzahlstufe üblich4. Über die letzte Zeit einer jeden Drehzahlstufe, in der das Reibmoment sich quasi nicht mehr ändert, wird das aufgezeichnete Reib- moment arithmetisch gemittelt. Die Dauer, über die die Mittelung erfolgt, hängt dabei von der Stufendauer ab und wie schnell das Dichtsystem einen Quasi-Gleichgewichtszustand erreicht. Gewöhnlich wird über die letzten 2 bis 10 Minuten gemittelt. 3Im Bereich von einigen wenigen Prozentpunkten pro Stunde 4Ist die Drehzahl in der ersten Stufe deutlich geringer als in der Konditionierungsphase, ist diese Drehzahlstufe ggf. länger zu halten, damit das Dichtsystem wieder abkühlen und einen thermischen Gleichgewichtszustand erreichen kann. 40 4 Reibwärme (Reibmoment) Zeit [h] R ei b m o m en t [N m ] D re h za h l [ 1 /m in ] Ö ls u m p f- Te m p er at u r [° C ] , , Einlaufphase Messphase , , , , Bild 4.3: Zeitlicher Verlauf einer Reibmoment-Messung am Beispiel des Prüflaufs KT-F8-071 aus Projekt [FKM619] Variation der Sumpftemperatur Bei einigen Untersuchungen wird zusätz- lich zur Wellendrehzahl auch noch die Temperatur des Öls5 variiert. Um einen zügigen Prüfablauf zu ermöglichen, werden in der Regel alle Dreh- zahlstufen nacheinander bei einer Öltemperatur „abgefahren“. Anschließend wird das Öl auf die nächsthöhere Temperatur aufgeheizt, und dann bei dieser alle Drehzahlstufen abgefahren. Diese Prozedur wird so lange wiederholt, bis alle gewünschten Messdaten vorliegen. Die Messungen sollten mit der niedrigsten Öltemperatur gestartet werden, um eine vorzeitige thermische Schädigung des Dichtsystems zu vermeiden. Wiederholversuche Häufig werden zur statistischen Absicherung mehrere Reibmoment-Messungen mit den gleichen Komponenten und Parametern durchgeführt, wobei stets ein neuer Dichtring und eine frische Position auf der Wellenlauffläche verwendet werden [FKM619]. 5im Ölsumpf bei geschlossener Kammer bzw. in der Nähe des Ölaustritts bei bespritzter Dichtstelle 4.1 Reibmoment-Messung 41 4.1.3 Approximation des Reibmoment-Verlaufs Das am Prüfstand gemessene Reibmoment kann in Abhängigkeit der Dreh- zahl mittels einer gebrochenrationalen Funktion approximiert werden. Dieser Ansatz wurde von Grün [GFB22b] entwickelt und in [P8] verwendet. Mit ei- nem Polynom ersten Grades6 im Zähler und einem Polynom zweiten Grades im Nenner, 𝑀𝑅 = 𝑎1 · 𝑛 𝑏2 · 𝑛2 + 𝑏1 ·𝑛 +𝑏0 , (4.2) lässt sich über den gesamten Drehzahlbereich eine gute Übereinstimmung erreichen, Bild 4.47. Mit einer solchen Funktion sind auch Berechnungen/ Simulationen für Drehzahlen möglich, bei denen keine Reibmoment-Messung erfolgte. Bild 4.4: Reibmomentverlauf mit Approximation (6