T I T E L T H E M A – F A C H A U F S A T Z 389WT WERKSTATTSTECHNIK BD. 113 (2023) NR. 10 Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen wissenschaftlich begutachteten und freigegebenen Fachaufsatz („reviewed paper“). Digitalisierung beim Kaltfließpressen durch Freifallinspektion und -kontrolle Kontrolle und Identifizierung von Pressteilen im freien Fall T. Deliktas, M. Liewald, P. Clauß, T. Schmid-Schirling, I. Kuntz, M. Feurer, G. Dimitropoulos, F. Wientapper, F. Räuchle Am Institut für Umformtechnik der Universität Stuttgart wurde eine automatisierte Messanlage in eine Kaltmassivumfor- mungs-Produktionslinie integriert. Das Projekt zielt darauf ab, Bauteile durch einen digitalen „Fingerabdruck“ zu identifizie- ren, Prozess- und Bauteildaten zu erfassen und sie mit indivi- duellen Pressteilen zu verknüpfen. Die Schlüsselkomponente ist eine Prüfkugel des Fraunhofer IPM, die während des freien Falls des Pressteils Fotos aufnimmt und sie für Kontrolle, Identifikation und Fehlererkennung nutzt. Control and identification of cold forged parts in free fall – The big hit: Process digitization in free fall in cold extrusion The Institute for Metal Forming Technology at the University of Stuttgart collaborated with partners to automate measurement in a cold forging production line. The project aims for marker- free component identification via „Fingerprint Track & Trace“, process and component data measurement, and data associa- tion with individual components. A key component is Fraun - hofer IPM‘s inspection sphere, capturing photos of falling pressed parts for dimensional accuracy checks, error detection, and fingerprint determination. 1 Einleitung Das vom BMWK geförderte Verbundprojekt „GUmProDig“ (Ganzheitliche Umform-Prozess-Digitalisierung) wird von zwei Forschungseinrichtungen (Institut für Umformtechnik IFU Stuttgart, Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM Freiburg), drei Unternehmen (Winning CoFo - Räuchle GmbH, Sotec GmbH & Co KG, Visometry GmbH) und einem assoziier- ten Unternehmen als Projektpartner (Marposs Monitoring Solu- tions GmbH) bearbeitet. Das übergeordnete Ziel dieses Vorhabens ist die Einsparung von CO2-Emissionen in der Produktionstechnik durch den fort- schreitenden Ausbau der Digitalisierung in der Kaltmassivumfor- mung. Der kombinierte Einsatz von Inline-Messtechnik und Ein- zelteilrückverfolgung soll eine Qualitäts- und Leistungssteigerung von Kaltumformprozessen bewirken. Dadurch sollen spanende Fertigungsprozesse substituiert, Ausschuss reduziert und Rück- rufaktionen durch Einzelteilverfolgung vermieden werden. Hauptbestandteil für das Erreichen dieses Ziels ist eine Prüfkugel mit 16 Kameras, die vom Fraunhofer IPM entwickelt wurde. Mittels einer der Ulbrichtkugel nachempfundenen Prüfanordnung sollen die Pressteile im freien Fall durch die Kugel digitalisiert, kontrolliert und identifiziert werden. Die Identifizierung erfolgt über eine vordefinierte Fläche am Pressteil, die prozessbedingt stets eine individuelle Oberflächentextur vorweisen muss. Das Projektergebnis bildet eine automatisierte Demonstratoranlage an einer Serienumformpresse mit vollständiger Prozessdigitalisie- rung auf Einzelteilebene. Die Aufgaben im Projekt waren wie folgt verteilt: Das IFU Stuttgart und die Firma Winning CoFo – Räuchle waren für die Auslegung, Konstruktion, Fertigung und Inbetriebnahme eines mehrstufigen Kaltfließpressprozesses zuständig. Der Aufbau der Anlage erfolgte vorerst unter Laborbedingungen am IFU und wird nachfolgend zu Winning CoFo – Räuchle transferiert, um das System unter Industriebedingungen testen und verbessern zu können. Das Fraunhofer IPM entwickelte eine Prüfkugel mit ent- sprechender Software zur Verarbeitung der Bilddaten. Aus den Bilddaten erfolgte zur Maßhaltigkeitsprüfung ein Abgleich der Außenkontur mit dem CAD-Modell des Bauteils, eine Kontrolle auf Oberflächenanomalien (wie Risse, Falten, Riefen, Ausbrüche) und die Ableitung eines Bauteil-Fingerabdrucks. Die Firma Viso- metry erarbeitete ein Kalibrierungsverfahren für die Bilddaten aus der Prüfkugel, ein Modellierungsverfahren zum digitalen Abgleich von Ist- und Sollbauteil sowie ein Verfahren zur Ermitt- lung der Pose (Lage und Orientierung im Weltkoordinaten - system) des Bauteils bei Aufzeichnung der Bilddaten. Die soft- waretechnische Korrelation zwischen Sensordaten aus dem Pro- zess und den Bilddaten der Hohlkugel erfolgte bei der Partner - firma Sotec. Aufgabe dieses Partners war damit die Entwicklung einer KI (künstliche Intelligenz)-basierten Regelstrategie für den Umformprozess, um damit selbstlernend Trends in der Pressteil- qualität zu detektieren und auf Einflüsse in der Produktion schnell reagieren zu können. 2 Stand der Technik In der Produktionstechnik ist die Kaltmassivumformung eine Schlüsseltechnologie aufgrund hoher Ausbringungsmengen von Bauteilen mit hoher Oberflächengüte und gesteigerten Betriebs - eigenschaften [1]. In Deutschland wurden im Jahr 2018 insge- S T I C H W Ö R T E R Produktionstechnik, Automatisierung, Digitalisierung doi.org/10.37544/1436–4980–2023–10–11 390 T I T E L T H E M A – F A C H A U F S A T Z WT WERKSTATTSTECHNIK BD. 113 (2023) NR. 10 samt 2 404 000 t massivumgeformte Bauteile gefertigt [2], wie Verbindungselemente (zum Beispiel Schrauben und Muttern), längliche Komponenten mit Hinterschneidungen (zum Beispiel Getriebewellen) und hohle, verzahnte Bauteile [3]. Die Prozessüberwachung in der Kaltmassivumformung erfolgt in der Praxis hauptsächlich durch die Messung der Presskraft. Durch Aufzeichnung des Presskraftverlaufs können thermisch- bedingte Längenänderungen von Pressen- und Werkzeugkompo- nenten im Krafthauptschluss detektiert und gezielt kompensiert werden [4]. Zudem bestehen Überwachungssysteme für Ferti- gungsprozesse, wie beispielsweise der Firma Marposs, welche mit piezoelektrischen Foliensensoren das Schwingungsverhalten des Werkzeugs detektieren und damit die Ausbildung von Werkzeug- verschleiß und -bruch frühzeitig erkennen können [5]. In moder- nen Produktionsanlagen werden kamerabasierte Prüfsysteme zur Fertigungskontrolle eingesetzt. Aufgrund der hohen Taktzahlen (bis 120 Teile/min) erfolgt die Prüfung meist stichprobenartig und ist somit, insbesondere für sicherheitsrelevante Bauteile, im industriellen Kontext nach heutigen Stand unzureichend [6, 7]. Die Verbesserung der Produktqualität in der Umformtechnik erfordert eine eindeutige Zuordnung von Prozessinformationen zum physischen Werkstück, wodurch eine Ursachenanalyse für Qualitätsabweichungen ermöglicht wird. Somit können Prozess- schritte in der Fertigungskette angepasst werden, um Ausschuss zu reduzieren und die Robustheit des Prozesses zu verbessern. Aktuelle Ansätze in der Umformtechnik beschränken sich auf Kennzeichnungstechniken, wie Radio-Frequency Identification (RFID), Etikettierung, Nadelmarkierung, Lasergravur und virtu- elle Kennzeichnung. Die Herausforderung bei RFID und Etiketten besteht in der Anbringung, Aufbewahrung und Entfernung. Nadelmarkierungen und Lasergravuren verändern lokal die Bauteilgeometrie und die Oberflächeneigenschaften in der Markierungszone. Ein Aspekt bei Markierungssystemen ist das Verhältnis von Markierungs - eindeutigkeit zu Markierungsprozesszeit. Gegenüber mehreren Sekunden dauernden Lasergravuren sind Nadelmarkierungen mit einer Markierungsdauer von circa 1 s deutlich schneller, jedoch ungenauer. Des Weiteren darf die maximal zulässige Markie- rungszeit in der Kaltmassivumformung mit Taktzahlen von bis zu 120 Teile/min entsprechend nur maximal 0,5 s betragen [8]. Das Fraunhofer IPM hat ein Verfahren entwickelt, welches Bauteile ohne zusätzliche Markierungen einzig aufgrund ihrer in- dividuellen Mikrostruktur der Oberfläche eindeutig identifizieren kann. Das Verfahren wird als „Track & Trace-Fingerprint“ (kurz: Fingerprint) bezeichnet [9]. Im Rahmen des Projektes soll die Technologie auf Bauteile im freien Fall übertragen werden. 3 Technische Auslegung einer Umformanlage unter Laborbedingungen Zur Auslegung einer dreistufigen Prozessfolge beim Kaltfließ- pressen erfolgte im Rahmen dieses Verbundprojekts zunächst die Auswahl einer Pressteilgeometrie. Beim Entwurf dieser Pressteil- geometrie wurden für die erste Demonstration des Vorhabens geometrische Randbedingungen festgelegt, die die fotooptische Aufzeichnung einer Fingerprintfläche sowie die Lokalisierung des Fingerprints auf der Bauteiloberfläche erlaubt. Diese Randbedin- gungen bedingen mindestens eine ebene Fläche am Pressteil mit ausreichend großer Fläche zur Detektion der Mikrostruktur. Zudem ist am Pressteil eine nicht rotationssymmetrische Form - ausprägung vorteilhaft, um die Orientierung des Pressteils und dessen Lage im Raum (Pose) zu ermitteln. In Bild 1 a) ist das Pressteil für die experimentelle Versuchsdurchführung unter Laborbedingungen am IFU im Projekt GUmProDig abgebildet. Es handelt sich um ein schraubenähnliches Fließpressbauteil mit den Hauptabmessungen Ø23 mm x 30 mm. Die Mantelfläche des Bild 1. a) Versuchsbauteil, b) Versuchswerkzeug zum dreistufigen Kaltfließpressen. Grafik: Uni Stuttgart IFU T I T E L T H E M A – F A C H A U F S A T Z 391WT WERKSTATTSTECHNIK BD. 113 (2023) NR. 10 Schraubenkopfes ist auf zwei gegenüberliegenden Seiten abge- flacht, was eine Posenschätzung um die Bauteilachse begünstigt. Die experimentellen Umformungen wurden am IFU Stuttgart auf einer stehenden servo-mechanischen Presse „Schuler MSL 1–500–0,85–500“ durchgeführt. Die Umformpresse hat eine maximale Presskraft von 500 t und besitzt jeweils einen zentral platzierten Stößel- und einen Tischauswerfer. Für das synchrone Kaltfließpressen sowie für das nachfolgende Auswerfen wurde das in Bild 1 b) dargestellte Versuchswerkzeug entwickelt. Es handelt sich um ein dreistufiges Werkzeuggestell mit Ø160 mm Werkzeugeinsätzen, das mit vier Säulenführungen ausgestattet ist. Dieses Werkzeuggestell befindet sich auf einem Auswerfersystem, das die Kraft des zentralen Tischauswerfers der Umformpresse auf die drei Umformstufen des Werkzeugs überträgt. Die Kraft- verteilung durch das Auswerfersystem erfolgt durch ein massiv ausgeführtes Werkzeugteil, das durch zwei Säulenführungen ge- führt wird. Oberhalb dieses Werkzeugteils sind drei Auswerferbolzen platziert, die mit je drei mechanisch vorgespannten Kraftmessrin- gen (Kistler 9061A, bis 200 kN) ausgestattet sind, um eine Mes- sung der Auswerferkräfte zu ermöglichen. Im Werkzeuggestell befinden sich auch drei Kraftmesssensoren zur Messung der Stempelkraft. Es handelt sich bei diesen Kraftmesssensoren um DMS (Dehnungsmessstreifen)-basierte Kraftmessdosen aus Werkzeugstahl als Federkörper. Als zusätzliche Sensoren wurden je zwei Thermoelemente in die Matrizen der zweiten und dritten Kaltfließpressoperation eingefügt, um damit prozessnahe Werk- zeugtemperaturen messtechnisch zu erfassen. Nachfolgend erfolgte die numerische Auslegung des dreistufi- gen Kaltfließpressprozesses durch Simulation der Prozessfolge im Dauerlauf. Unter Verwendung der FE (Finite Elemente)-Soft- ware „Deform2D/3D“™ konnten thermisch-mechanische Wechsel- wirkungen (wie thermische Dehnung von Werkzeug und Werk- stück, Stufenspiel, Volumenschwankung) zwischen den einzelnen Prozessstufen im Dauerlaufbetrieb erfasst werden. Diese Ergeb- nisse dienten zur konstruktiven Auslegung und Optimierung der aktiven Werkzeugoberflächen. Der Dauerlaufbetrieb wurde simu- lativ entsprechend Bild 2 modelliert. Das dargestellte 2D-Simulationsmodell enthält alle drei Um- formwerkzeuge als starre Objekte. Dabei wird das rein plastische Werkstück aus C15 von einer Umformoperation zur nächsten transferiert. Vereinfacht erfolgte der Werkstücktransfer als „Heat Transfer“ in Deform2D. Dadurch gibt das Werkstück, aufgrund von Konvektion und Strahlung innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums, Wärme an die Umgebung ab. Die Stempelbewegung erfolgte durch Implementierung des gemessenen Stößelbewe- gungsprofils der Schuler Umformpresse bei einer Hubzahl von 25 Hub/min. Die numerische Ermittlung der Werkzeugtempera- tur mehrstufiger Kaltfließpresswerkzeuge konnte aufgrund des hohen Rechenaufwands nicht bei zeitgleicher Umformung in allen drei Umformstufen realisiert werden. Es wurden daher ein- zelne Werkstücke nacheinander virtuell durch die Prozessfolge bewegt, wobei thermische Vorgänge von nicht beteiligten Werk- zeugkomponenten unterbunden worden. Die erreichten Werk- zeugtemperaturen wurden somit „eingefroren“, bis die gleiche Umformoperation für das nachfolgende Werkstück durchgeführt wurde. Da bei der Setzoperation kaum Temperatur in das Um- formwerkzeug eingebracht wird, wurde das Setzen initial durch- geführt und anschließend stets ein bereits gesetztes Werkstück in den Dauerlauf übergeben. Es wurden insgesamt 1000 Umform- hübe im Dauerlauf simuliert. In Bild 3 a) ist das Temperaturprofil beim Voll-Vorwärts- Fließpressen innerhalb von 1000 Umformhüben dargestellt. An den Messpunkten P1 bis P4 zeigt sich, dass die Werkzeug- temperatur von anfänglich 20 °C nach etwa 450 Umformhüben eine Sättigungstemperatur von 57 °C erreicht. Die Peaks pro Hub entstehen durch die vom Werkstück durch den Umformvorgang eingebrachte Wärmemenge, wobei das Werkstück eine maximale Temperatur von 195 °C erreicht. Im Zuge dieser numerischen Untersuchung wurde ebenfalls die Werkzeugtemperatur in der dritten Umformoperation, dem Kopfstauchen, ermittelt. Bild 3 b) zeigt das dabei an den Messpunkten P1 - P4 ermittelte Werkzeug- temperaturprofil innerhalb von 1000 Umformhüben. Es ist zu erkennen, dass die Werkzeugtemperatur beim Kopfstauchen in- nerhalb von circa 650 Umformhüben eine scheinbare Sättigungs- temperatur von etwa 59 °C erreicht. Anhand der mittels Simulati- on berechneten Werkzeugtemperaturprofile wurden die Thermo- elemente in den Umformwerkzeugen positioniert und orientiert. Weiterhin wurde das elastische Verhalten der Werkzeugkom- ponenten unter Berücksichtigung des Werkzeugtemperaturprofils nach 1000 Umformhüben durch eine elastisch-plastische Simula- tion der einzelnen Werkzeugstufen untersucht. Dabei wurde fest- gestellt, dass das entsprechende Werkzeugtemperaturprofil zu einer Vergrößerung der elastischen radialen Matrizenweitung um 1,9 µm beim VVFP (Voll-Vorwärts-Fließpressen) und um 3,5 µm beim Kopfstauchen gegenüber der Werkzeuginitialtemperatur von 20 °C führte. Zur experimentellen Durchführung automatisierter Umform- versuche am IFU Stuttgart wurde gemeinsam mit der Firma Mawi GmbH eine Automatisierung konzipiert. Diese besteht aus einem Förderband zur manuellen Rohteilbestückung, einer Teile- vereinzelung und einem Greifertransfersystem mit fünf servo- mechanischen Greifern zur automatisierten Durchführung der Prozessfolge. Nach dem letzten Umformschritt im Prozess dienen zwei horizontale Förderbänder sowie ein Steigförderer dazu, die Bild 2. Numerisches Modell des dreistufigen Kaltfließprozesses im Dauerlaufbetrieb in „Deform2D“. Grafik: Uni Stuttgart IFU 392 T I T E L T H E M A – F A C H A U F S A T Z WT WERKSTATTSTECHNIK BD. 113 (2023) NR. 10 Pressteile zur Prüfkugel zu befördern und diese in einen Trichter oberhalb der Prüfkugel abzuwerfen. 4 Aufbau und Inbetriebnahme der Prüfkugel Das Fraunhofer IPM hat eine Prüfkugel für das geplante Demonstrationsvorhaben aufgebaut (Bild 4). Die Prüfkugel besteht aus zwei Hohlkugelhälften, die in ihrer horizontalen Trennebene gefügt werden. An beiden Öffnungen an der horizontalen Trennebene der Prüfkugel befinden sich Lichtschranken, die zur Auslösung der Kameras eingesetzt wer- den. Zur optischen Teileaufnahme wurde die Prüfkugel mit ins- gesamt 16 hochauflösenden Kameras ausgestattet. Zwei LED- Ringe (40 A, 3,2 kW) an beiden Prüfkugelöffnungen sorgen für eine schlagschattenfreie, diffuse Beleuchtung des Bauteils im frei- en Fall, die so kurz ist, dass keine Bewegungsunschärfe in den Bild 3. Numerische Ergebnisse der Werkzeugtemperatur im Dauerlaufbetrieb: a) Voll-Vorwärts-Fließpressen (VVFP), b) Kopfstauchen. Grafik: Uni Stuttgart IFU Bild 4. Aufbau der Prüfkugel des Fraunhofer IPM. Rechts unten: exemplarische Aufnahmen von Bauteilen im freien Fall. Künstlich erzeugte Schlagstellen wurden erkannt und Abweichungen zum CAD-Modell quantifiziert. Foto: Fraunhofer IPM Freiburg T I T E L T H E M A – F A C H A U F S A T Z 393WT WERKSTATTSTECHNIK BD. 113 (2023) NR. 10 Bildern auftritt. Unterhalb der Prüfkugel wird die Ergänzung einer pneumatischen Teileschleuse zum Aussortieren von Aus- schussbauteilen realisiert. Das Institut hat bei der Entwicklung der Prüfkugel die Anordnung der Kameras simulativ optimiert und einen Kalibrierkörper ausgearbeitet. Der Kalibrierkörper mit Charuco-Musterung dient zur Kamerakalibrierung und soll eine Posenschätzung im Subpixelbereich ermöglichen. Das Fraunhofer IPM arbeitet gemeinsam mit dem Projektpart- ner Firma Visometry GmbH an der softwarebasierten Verarbei- tung der Fotos aus der Prüfkugel. Erste Versuche legen nahe, dass Fingerprints zur eindeutigen Identifikation der Bauteile in weni- ger als 0,1 s erzeugt werden können und auf eine Größe < 10 kB reduziert werden können. Die Wiedererkennung lässt sich voraussichtlich innerhalb von einer Sekunde realisieren, abhängig von der Anzahl der zu unterscheidenden Bauteile. Die Prüfkugel kann Prüfobjekte von mindestens 5 x 5 x 5 mm bis maximal 60 x 60 x 60 mm innerhalb von 0,2 s detektieren und erkennt dabei auch Oberflächendefekte ab 30 µm. Die bisherigen Ergeb- nisse wurden mit Verbindungswinkeln und mit zunächst spanend gefertigten GUmProDig-Versuchsbauteilen generiert. Ziele der Bildverarbeitung seitens Visometry und Fraunhofer IPM sind: 1. Detektion und Groblokalisierung des Bauteils 2. Feinlokalisierung 3. Hypothesenauswahl/Voting 4. Globale Feinlokalisierung mit allen 16 Kameraaufnahmen 5. Prüfung der Maß- und Formabweichungen Das Fraunhofer IPM nutzt die Bilddaten zudem, um daraus einen Bauteil-Fingerprint zu erzeugen. In Bild 5 ist die softwareseitige Vorgehensweise zur Detektion eines Bauteil-Fingerprints am Re- ferenzbeispiel eines Verbindungswinkels dargestellt. Dabei wird für jedes Foto der 16 Kameras eine Posenschätzung durchgeführt, welche schlussendlich zu einer sogenannten UV-Karte der Auf- nahme führt. Diese Karten dienen zur Extraktion der Oberflächentextur an immer derselben Bauteilposition und bestehen aus einer Abwick- lung aller auf dem Foto sichtbaren Bauteiloberflächen auf eine Ebene. Aus der UV-Karte kann dann der Bauteil-Fingerprint basierend auf charakteristischen Oberflächenmerkmalen erzeugt werden. Bei den Vorversuchen mit Verbindungswinkeln konnten mit diesem Verfahren alle Bauteile korrekt wiedererkannt wer- den, da die kantige Geometrie des Bauteils vorteilhaft für die Posenschätzung beziehungsweise Lokalisierung des Bauteils im Raum ist. Versuche zur Posenschätzung mit gedrehten Versuchs- bauteilen führten bei insgesamt 125 Fotoaufnahmen zu einer erfolgreichen Posenschätzung von bisher 84,8 %. Die Sotec GmbH arbeitet an einem ML (Machine Learning)- basierten Ansatz zur Sortierung der Bilddaten nach Gut- und Ausschussbauteilen und wird ebenfalls Oberflächendefekte (wie Aufplatzer, Risse, Schlagstellen, Aufschweißungen, Abdrücke) klassifizieren. Der Projektpartner Firma Winning CoFo – Räuchle mit jahrelanger Expertise aus der Kaltmassivumformung unter- stützt Sotec bei der Klassendefinition dieser Oberflächendefekte sowie bei der Zuordnung der Trainingsfotodaten an die zuvor definierten Klassen. Zur IO/NIO-Sortierung verglich Sotec einen Variational Autoencoder, die „Vertex AI Image Classification“ und die „VAIA Anomaly Detection“, mit insgesamt 4452 Bauteil - fotos. Dabei konnte mit dem ML-basierten Modell VAIA Anoma- ly Detection eine Erfolgsquote von 99,4 % bei der Sortierung erreicht werden. Zur Klassifizierung der Oberflächendefekte wurden ebenfalls mehrere Modelle miteinander verglichen. Zum Einsatz kamen die „Vertex AI Image Classification“ (72,1 %), die „Vertex AI Object Detection“ (79,6 %), die „VIAI Cosmetic Inspection“ (83,5 %) und die „YOLOv5 Object Detection“ mit einer Erfolgsquote von 89, 0%. Aktuell wird das ausgewählte YOLOv5-Modell optimiert, um die Erfolgsquote bei der Klassifikation der Bauteilfotos zu er- höhen. 5 Zusammenfassung und Ausblick Im Verbundvorhaben GUmProDig wurde ein dreistufiger Kaltfließpressprozess ausgelegt und ein entsprechendes Werkzeug Bild 5. Detektion eines Bauteil-Fingerprints am Beispiel eines Verbindungswinkels. Foto: Fraunhofer IPM Freiburg 394 T I T E L T H E M A – F A C H A U F S A T Z WT WERKSTATTSTECHNIK BD. 113 (2023) NR. 10 mit Sensoren zur Messung der Prozesskräfte und Werkzeugtem- peraturen entwickelt. Weiterhin wurde gemeinsam mit der Mawi GmbH eine Automatisierung für die stehende servo-mechanische Umformpresse von Firma Schuler ausgearbeitet, die Ende August 2023 am IFU Stuttgart in Betrieb genommen werden soll. Der automatisierte Umformprozess wird dann die vom Fraunhofer IPM entwickelte und beigestellte Prüfkugel mit Pressteilen ver- sorgen, um die Detektion von Bauteil-Fingerprints und Bauteil- kontrollen zu validieren und zu optimieren. Die messtechnische Bilderfassung und die softwaretechnische Bilddatenverarbeitung wird vom Fraunhofer IPM (Fingerprint), von Visometry (Objektdetektion, Posenschätzung, Geometrie- kontrolle) und Sotec (ML-basierte Sortierung IO/NIO und Feh- lerklassifikation) betreut. Bisherige Ergebnisse aus Vorversuchen basieren auf nicht umformtechnisch gefertigten oder virtuellen Bauteilen. Sie müssen nach Fertigstellung von Umformwerkzeug und Automatisierung der Umformpresse mit Pressteilen validiert werden. Bei Vorversuchen mit der Prüfkugel am Fraunhofer IPM mit Verbindungswinkeln konnten alle Objekte wiedererkannt werden. Vorversuche zur ML-basierten Sortierung der Bilddaten nach Gut- und Ausschussbauteilen und zur Erkennung von Ober- flächendefekten erfolgten mit insgesamt 4452 Bauteilfotos. Dabei konnte mit dem ML-basierten Modell VAIA Anomaly Detection eine Erfolgsquote von 99,4 % bei der Bauteilsortierung erreicht werden. Zur Klassifizierung der Oberflächendefekte wurde das YOLOv5-Modell zur Objektdetektion mit einer Erfolgsquote von 89,0 % trainiert. Nach erfolgreicher Umsetzung des Demonstrationsvorhaben unter Laborbedingungen am IFU Stuttgart ist ausblickend der Transfer der Anlage zur Firma Winning CoFo – Räuchle geplant. Dort soll das System unter industriellen Bedingungen erprobt und optimiert werden. L i t e r a t u r [1] Lange, K.; Kammerer, M.: Fließpressen. Heidelberg: Springer-Verlag 2008 [2] Euroforge: EUROFORGE Production 2018–2019. 2018–2019 European survey – preliminary report . Internet:/www.euroforge.org/wp-content/ uploads/2022/05/International-Statistics.pdf. Zugriff am: 22.09.2023 [3] Industrieverband Massivumformung e. V. (Hrsg.): Kaltmassivumfor- mung: Präzision in Serie. Stand: 2012. Internet: www.massivumfor mung.de/fileadmin/user_upload/6_Presse_und_Medien/Veroeffentli chungen/Extra-Info/Kaltmassivumformung_Druckversi- on_12–10–04.pdf. Zugriff am 19.09.2023 [4] Qin, Y.; Balendra, R.; Chodnikiewicz, K.: Method for the simulation of temperature stabilisation in the tools during multi-cycle cold-forging operations. 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F r i e d r i c h R ä u c h l e Winning CoFo – Räuchle GmbH Räuchlestr. 7, 89165 Dietenheim friedrich.raeuchle@winningcofo.com www.winningcofo.com F Ö R D E R H I N W E I S Gefördert durch das Technologietransfer-Programm Leichtbau (TTP LB) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klima- schutz (BMWK); Förderkennzeichen FKZ03LB3008. L I Z E N Z Dieser Fachaufsatz steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/