STUTTGARTER BEITRÄGE ZUR PRODUKTIONSFORSCHUNG Susann Kärcher »Methodik zur automatisierten Generierung einer best-practice-basierten Ablaufplanung manueller Montagesysteme« B an d 16 2 | S us an K är ch er | M et ho di k zu r au to m at is ie rt en G en er ie ru ng e in er b es t- pr ac ti ce -b as ie rt en A bl au fp la nu ng m an ue lle r M on ta ge sy st em e STUTTGARTER BEITRÄGE ZUR PRODUKTIONSFORSCHUNG BAND 162 Susann Kärcher »Methodik zur automatisierten Generierung einer best-practice-basierten Ablaufplanung manueller Montagesysteme« Herausgeber Univ.-Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl1,2 Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Kfm. Alexander Sauer1,3 Univ.-Prof. Dr.-Ing. Kai Peter Birke4 Univ.-Prof. Dr.-Ing. Marco Huber1,2 1 Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA, Stuttgart 2 Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF) der Universität Stuttgart 3 Institut für Energieeffizienz in der Produktion (EEP) der Universität Stuttgart 4 Institut für Photovoltaik (ipv) der Universität Stuttgart Kontaktadresse: Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA Nobelstr. 12 70569 Stuttgart Telefon 0711 970-1100 info@ipa.fraunhofer.de www.ipa.fraunhofer.de Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Zugl.: Stuttgart, Univ., Diss., 2023 D 93 2024 Druck und Weiterverarbeitung: Fraunhofer-Druckerei, Stuttgart Für den Druck des Buches wurde chlor- und säurefreies Papier verwendet. Dieses Werk steht, soweit nicht gesondert gekennzeichnet, unter folgender Creative-Commons-Lizenz: Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen International 4.0 (CC BY-NC-ND 4.0). mailto:info@ipa.fraunhofer.de http://www.ipa.fraunhofer.de/ http://dnb.de/ https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/ Methodik zur automatisierten Generierung einer best-practice-basierten Ablaufplanung manueller Montagesysteme Automated Generation of a Best Practice Based Assembly Sequence in Manual Assembly Von der Fakultät Konstruktions-, Produktions- und Fahrzeugtechnik der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde einer Doktor-Ingenieurin (Dr.-Ing.) genehmigte Abhandlung Vorgelegt von Susann Kärcher aus Stuttgart – Bad Cannstatt Hauptberichter: Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl Mitberichter: Prof. Dr.-Ing. Gunther Reinhart (em.) Tag der mündlichen Prüfung: 18. September 2023 Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb der Universität Stuttgart 2024 Vorwort der Autorin V Vorwort der Autorin Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA und am Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF) der Universität Stuttgart. An dieser Stelle möchte ich allen danken, die mich auf diesem spannenden und herausfordernden Weg begleitet haben. Ohne sie wäre diese Arbeit so nicht möglich gewesen. Zunächst möchte ich mich bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl, herzlich für die Unterstützung während meiner Promotion und das Vertrauen, das er mir während dieser Zeit am Institut entgegengebracht hat, bedanken. Außerdem gilt mein Dank Herrn Prof. Dr.-Ing. Gunther Reinhart für die Übernahme des Mitberichts und die wertvollen Anregungen. Weiter möchte ich mich bei all meinen Kolleginnen und Kollegen des Fraunhofer IPA, insbesondere der Abteilung Fabrikplanung und Produktionsmanagement, für die sehr gute Zusammenarbeit bedanken. Ich danke meinem Abteilungsleiter Herrn Michael Lickefett für die fachlichen Diskussionen und den Rückhalt, den er mir bei meiner täglichen Arbeit gibt. Frau Dr.-Ing. Petra Foith-Förster danke ich für die fachliche Betreuung meiner Arbeit und die Unterstützung bei ihrer Erstellung. Herrn Timo Denner danke ich für die fachliche Ausbildung und die praktischen Ratschläge. Herrn Dr. phil. Klaus Erlach danke ich für seine Korrekturen und die fachlichen Diskussionen. Ganz herzlich möchte ich mich weiter bei meinen Kolleginnen und Kollegen der Gruppe 121 – Patricia Berkhan, Axel Bruns, Emir Cuk, Florian Grabi, Kristina Nordwig, Daniel Ranke, Michael Trierweiler – für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und gemeinsame Zeit bedanken. Meinen beiden Bürokolleginnen Dr.-Ing. Petra Foith-Förster und Dr.-Ing. Silke Hartleif möchte ich für ihre Unterstützung, Motivation und ihre Freundschaft danken. Mein besonderer Dank gilt außerdem David Görzig für die gemeinsamen Diskussionen und die Korrektur meiner Arbeit. Weiter danke ich Julian Maier und Andrea Posada Cardenas für die Unterstützung bei der prototypischen Implementierung, Emir Cuk für die Unterstützung beim visuellen Tool und bei den Vorwort der Autorin VI Abbildungen zu den Graphen, Florian Grabi für die Mitarbeit im Validierungsprojekt, Dr.-Ing. Eduardo Colangelo für die Unterstützung bei auftretenden Fragen, Dr.-Ing. Johannes Wößner für die Diskussionen während unserer gemeinsamen Dienstreisen und Dr.-Ing. Erwin Groß für die gute Zusammenarbeit. Weiter möchte ich Anna Buss, Lisa Günther, Christoph Haar, Dr.-Ing. Max Dinkelmann, Dr.-Ing. Manuel Fechter, Felix Müller, Dr.-Ing. Alexander Neb, Günther Riexinger, Brandon Sai, Dr.-Ing. Roman Ungern-Sternberg und Dr.-Ing. habil. Hans-Hermann Wiendahl stellvertretend für all die Kolleginnen und Kollegen nennen, die mich während meines Weges begleitet haben. Frau Dr. phil. Birgit Spaeth danke ich für die kritische Durchsicht meiner Arbeit. Weiter danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliothek – insbesondere Dorothee Böhringer, Christina Berse, Olga Liebert, Lara Bihlmaier, Elena Pretzel und Peter Molitor – für ihre Unterstützung. Meinen studentischen Mitarbeitenden und Abschlussarbeitenden möchte ich für ihre Mitarbeit und die Freiräume, die sie mir ermöglichten, danken. Stellvertretend möchte ich an dieser Stelle Daniel Dreher, Stephan Mayer, Tom Könecke, Florian Roth, Claudius von Rohr, Melda Aygan, Constanze-Elisa Reich, Jana Trstenjak, Marco Hellriegel, Hendrik Vosgerau, Sven Finkbeiner, Niklas Tritschler, Lasse Holzträger, Roman Burkart, Malte Gradetzke, Ramin Bayat, Fabian Fauser und Marco Schick nennen. Der Elabo GmbH, insbesondere Herrn Hösle, Herrn Striffler und Herrn Margalef, möchte ich für die Freigabe einiger Projektergebnisse zur Verwendung in der vorliegenden Arbeit danken. Meinen Freunden, die mich immer motiviert und auch für die ein oder andere Ablenkung gesorgt haben, möchte ich ebenfalls danken. Abschließend möchte ich mich noch bei meiner Familie bedanken. Meinen Eltern Elke und Klaus Kärcher danke ich ganz besonders für ihre bedingungslose Unterstützung. Ihr habt mich immer darin bestärkt, dass ich das erreichen kann, was ich mir vornehme. Ich danke meiner Schwester Laura für den Zusammenhalt, wenn es darauf ankommt. Meinen Schwiegereltern Martina und Norbert Richter danke ich dafür, dass ich auch ein Teil eurer Familie geworden bin. Meinem Mann Nico danke ich für mittlerweile 17 Jahre an meiner Seite und für unsere wundervolle Tochter Liv. Sie zeigt mir jeden Tag, was im Leben wirklich zählt. Ihnen widme ich diese Arbeit. Susann Kärcher Kurzzusammenfassung VII Kurzzusammenfassung In manuellen Montagesystemen ist die Variantenvielfalt oft hoch, die Stückzahlen sind gering und sie unterliegen häufigen Änderungen. Klassische Methoden der Montageplanung sind bei diesen Herausforderungen oft zu aufwändig. Dies führt dazu, dass Montagesysteme häufig eine unzureichende Planungstiefe und noch großes Optimierungspotential haben. In der vorliegenden Arbeit wurde eine Methodik entwickelt, die automatisiert eine Montageablaufplanung generiert. Sie überträgt den Grundgedanken des Benchmarkings – von anderen Best Practices zu lernen – auf die manuelle Montage. Auf Basis von Ist-Daten aus der Montage vergleicht die Methodik unterschiedliche Montageabläufe eines Produktes und generiert daraus den besten Montageablauf. Weiter werden unter Einbeziehung der Leistungsgrade und Arbeitsplatzfaktoren Vorgabezeiten generiert. Die Methodik ist an ein Benchmarking-Vorgehensmodell angelehnt und in vier Schritte gegliedert: die Planung, die Datenerhebung, die Datenanalyse und das Vornehmen von Verbesserungen. Die Vorteile der Methodik liegen in der automatisierten Montageablaufplanung in manuellen Montagesystemen. Sie erhöht so die Produktivität in manuellen Montagesystemen und reduziert den Planungsaufwand. Das generische Modell erlaubt eine Anwendung der Methodik in unterschiedlichen manuellen Montagesystemen. Kurzzusammenfassung VIII Abstract IX Abstract In manual assembly systems, the number of variants is often high, the quantities are low and they are subject to frequent changes. In this challenging environment, classical methods of assembly planning are often too time-consuming. As a result, assembly systems often have insufficient planning depth and still great potential for optimization. In the present work, a methodology was developed that automatically generates an assembly sequence planning. It transfers the basic idea of benchmarking – to learn from other best practices – to manual assembly. Based on actual data of the assembly, the methodology compares different sequences to assemble the product and generates the best assembly sequence based on this data. Further, taking performance levels and workplace factors into account, target times are generated. The methodology is based on a benchmarking process model and structured in four steps: planning, data gathering, data analysis and making improvements. The advantages of the methodology is automated assembly sequence planning in manual assembly systems. It thus increases productivity in manual assembly systems and reduces the effort required for their planning. The generic model makes the methodology suitable for different manual assembly systems. Abstract X Inhaltsverzeichnis XI Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis XV Abbildungsverzeichnis XVII Tabellenverzeichnis XIX 1 Einleitung 1 1.1 Ausgangssituation ............................................................................................................. 1 1.2 Problemstellung ................................................................................................................ 6 1.3 Zielsetzung, Forschungsfrage und Lösungshypothese ...................................................... 8 1.4 Wissenschaftstheoretische Einordnung ........................................................................... 10 1.4.1 Positionierung der Arbeit ....................................................................................... 10 1.4.2 Forschungsmethodologie ....................................................................................... 12 1.4.3 Entdeckungszusammenhang .................................................................................. 15 1.4.4 Begründungszusammenhang ................................................................................. 17 1.4.5 Verwendungszusammenhang ................................................................................ 19 1.5 Forschungsprozess und Aufbau der Arbeit ..................................................................... 20 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 23 2.1 Die Montage als Teil der Produktion .............................................................................. 23 2.2 Das Montagesystem als soziotechnisches System .......................................................... 25 2.2.1 Systembegriff ......................................................................................................... 25 2.2.2 Soziotechnisches System ....................................................................................... 28 2.2.3 Montagesystem ...................................................................................................... 30 2.3 Grundlagen manueller Montagesysteme ......................................................................... 34 2.3.1 Produkttypen, Varianten, Optionen ....................................................................... 35 2.3.2 Stückzahl und Wiederholhäufigkeit ...................................................................... 36 2.3.3 Organisationsformen ............................................................................................. 37 Inhaltsverzeichnis XII 2.3.4 Wertschöpfung, Nebenarbeit, Verschwendung ..................................................... 39 2.3.5 Zeitdaten ................................................................................................................ 40 2.3.6 Produktivität, Effizienz und Effektivität ............................................................... 41 2.3.7 Leistungsgrad ........................................................................................................ 43 2.4 Die Montageablaufplanung als Teil der Montageplanung ............................................. 44 2.4.1 Montageablaufplanung in der variantenreichen Serienproduktion ....................... 46 2.4.2 Abbildung von Montageabläufen .......................................................................... 46 2.4.3 Rolle der Montagemitarbeitenden in der Montageplanung ................................... 48 3 Reflexion bestehender Ansätze zur (teil-)automatisierten Montageablaufplanung 51 3.1 Anforderungen an die Methodik ..................................................................................... 51 3.2 Analyse eines manuellen Montagesystems ..................................................................... 53 3.2.1 Manuelle Analyse von Montagesystemen ............................................................. 53 3.2.2 Automatisierte Analyse von manuellen Montagesystemen .................................. 54 3.2.3 Fazit ....................................................................................................................... 56 3.3 (Teil-)automatisierte Montageablaufplanung ................................................................. 56 3.3.1 Manuelle Montageablaufplanung .......................................................................... 57 3.3.2 Ansätze zu Änderungen im Prozess ...................................................................... 57 3.3.3 Ansätze aus Sicht der Montage ............................................................................. 59 3.4 Bewertung bestehender Ansätze und Ableitung Handlungsbedarf ................................ 61 4 Lösungsansatz 65 4.1 Grundlagen zur Methodik ............................................................................................... 65 4.1.1 Modell ................................................................................................................... 65 4.1.2 Methode und Hilfsmittel ....................................................................................... 67 4.2 Benchmark ...................................................................................................................... 68 4.3 Struktur der Methodik ..................................................................................................... 71 5 Generisches Modell eines Montagesystems 75 5.1 Anforderungen an das Modell ........................................................................................ 75 5.2 Aufbau des Modells ........................................................................................................ 77 5.2.1 Systemabgrenzung ................................................................................................. 78 5.2.2 Merkmalsbeschreibung ......................................................................................... 80 5.2.3 Modellformalisierung ............................................................................................ 81 5.2.4 Prüfung des Modells (Verifikation) ...................................................................... 87 Inhaltsverzeichnis XIII 6 Methode und Hilfsmittel zur automatisierten Generierung einer Montageablaufplanung 93 6.1 Übersicht Methode .......................................................................................................... 93 6.2 Erhebung Ist-Daten ......................................................................................................... 95 6.3 Datenanalyse ................................................................................................................... 96 6.3.1 Modellierung der Montageabläufe ........................................................................ 97 6.3.2 Schritt A0 – Vorbereitung ..................................................................................... 99 6.3.3 Schritt A1 – Aufspannen des Montagegraphen ................................................... 101 6.3.4 Schritt A2 – Prüfen des Montagegraphen ............................................................ 105 6.3.5 Schritt A3 – Finden des kürzesten Weges (Best-Practice-Montageablauf)......... 106 6.3.6 Schritt A4 – Berechnen der Faktoren mit Einfluss auf die Vorgabezeiten.......... 108 6.4 Verbesserungen vornehmen .......................................................................................... 112 6.4.1 Schritt V1 – Best Practice anpassen .................................................................... 112 6.4.2 Schritt V2 – Ergebnisse verfügbar machen ......................................................... 114 6.5 Besonderheiten im Anwendungsfall ............................................................................. 116 6.5.1 Varianz in der Anzahl der Prozesse ..................................................................... 116 6.5.2 Fehler und Nacharbeitsschritte ............................................................................ 117 6.5.3 Organisationsform ............................................................................................... 118 6.5.4 Anzahl Mitarbeitende und Arbeitsplätze je Produkt ........................................... 118 6.5.5 Temporäre und kontinuierliche Optimierung ...................................................... 119 6.5.6 Umgang mit verschiedenen und ähnlichen Produkten ........................................ 120 6.5.7 Gleiche Prozessergebnisse mit unterschiedlicher Bezeichnung .......................... 121 6.6 Prototypische Implementierung .................................................................................... 122 7 Validierung der Methodik 127 7.1 Fallbeispiel 1 ................................................................................................................. 127 7.2 Fallbeispiel 2 ................................................................................................................. 135 7.3 Kritische Reflexion der Methodik ................................................................................. 145 8 Zusammenfassung und Ausblick 151 8.1 Zusammenfassung ......................................................................................................... 151 8.2 Ausblick ........................................................................................................................ 153 Literaturverzeichnis 157 Symbolverzeichnis der verwendeten Variablen 215 Begriffe zur Methode 217 Inhaltsverzeichnis XIV Ergänzungen zu Graphen 219 Ergänzungen zu Benchmarking-Vorgehensmodellen 221 Ergänzung zu Fallbeispiel 1 223 Publikationen 225 Abkürzungsverzeichnis XV Abkürzungsverzeichnis Abkürzung Bedeutung AG Aktiengesellschaft AP Arbeitsplatz BIP Bruttoinlandsprodukt CSV Dateiformat (comma-separated values) DL Durchlauf e.V. Eingetragener Verein Fraunhofer IAO Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO Fraunhofer IBP Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP Fraunhofer IGB Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB Fraunhofer IPA Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA Fraunhofer IRB Fraunhofer-Informationszentrum Raum und Bau IRB GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung ID Identifikationsnummer IFF Universität Stuttgart Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb IFF der Universität Stuttgart IT Informationstechnologie KDD Knowledge Discovery in Database l links Abkürzungsverzeichnis XVI MA Die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter (Sing.), die Mitarbeitenden (Pl.) min Minuten N Notwendiger Prozess O Optionaler Prozess P Produkt r rechts S Nebentätigkeit (S: support) VL Wertschöpfung (V: value creation) W Verschwendung (W: waste) Abbildungsverzeichnis XVII Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Herausforderungen für die Industrie ......................................................................... 2 Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland nach Altersgruppen bis 2060 ................ 4 Abbildung 3: Wissenschaftssystematik und Positionierung der Arbeit ........................................ 12 Abbildung 4: Aufbau der Arbeit in Anlehnung an den Forschungsprozess nach Ulrich .............. 20 Abbildung 5: Funktionen der Montage ......................................................................................... 24 Abbildung 6: Grundbegriffe des Systemdenkens.......................................................................... 26 Abbildung 7: Das primäre Arbeitssystem als soziotechnisches System ....................................... 30 Abbildung 8: Das Montagesystem als Teil des Produktionssystems ............................................ 31 Abbildung 9: Das Montagesystem als soziotechnisches System im Verständnis dieser Arbeit ... 34 Abbildung 10: Anwendungsbereiche von manuellen und automatisierten Montagesystemen ..... 35 Abbildung 11: Zusammenhang zwischen Stückzahl, Varianz und Organisationsform ................ 39 Abbildung 12: Beispiele für den Einfluss der Elemente eines Montagesystems auf die Montagezeiten ....................................................................................................... 41 Abbildung 13: Unterscheidung zwischen Produktivität und technischer Effizienz ...................... 43 Abbildung 14: Die Montageablaufplanung im Verständnis dieser Arbeit .................................... 46 Abbildung 15: Übersicht graphenbasierte Modellierungsmethoden für Montageabläufe ............ 48 Abbildung 16: Anforderungen an die Methodik ........................................................................... 52 Abbildung 17: Methoden zur Zeitermittlung ................................................................................ 53 Abbildung 18: Automatisierte Analyse von Montageprozessen ................................................... 54 Abbildung 19: Montageablaufplanung .......................................................................................... 56 Abbildung 20: Zusammenhang zwischen System und Modell ..................................................... 66 Abbildung 21: Arten des Benchmarkings in Abhängigkeit der Benchmarkingpartner ................ 69 Abbildung 22: Lösungsansatz ....................................................................................................... 72 Abbildung 23: Entwicklung der Methodik angelehnt an das Benchmarking-Vorgehensmodell.. 74 Abbildung 24: Abzubildendes System als Subsystem des Montagesystems ................................ 78 Abbildung 25: Generisches Modell des Montagesystems ............................................................ 86 Abbildung 26: Ablaufdiagramm zur Generierung einer Montageablaufplanung ......................... 94 Abbildung 27: Grundlegender Aufbau des Montagegraphen zur Abbildung der möglichen Montageabläufe ..................................................................................................... 99 Abbildung 28: Elimination der Verschwendung (schematische Darstellung) ............................ 100 Abbildung 29: Anpassung bei mehrfach auftretenden Prozessen (schematische Darstellung) .. 101 Abbildung 30: Erzeugung und Benennung der Knoten im Montagegraph (Beispiel) ................ 103 Abbildung 31: Aufspannen eines Montagegraphen nach Sequenzen (Beispiel) ........................ 104 Abbildung 32: Aufspannen des Graphen bei notwendigen und optionalen Prozessen (Beispiel) ............................................................................................................. 105 Abbildung 33: Leistungsgradberechnung bezogen auf ein Grundmodul (Beispiel) ................... 109 Abbildung 34: Anpassen der Best-Practice-Vorgabezeit (Beispiel) ........................................... 113 Abbildung 35: Erfolgreiche Erhöhung der Produktivität und Güte der Montageanweisungen bei durchgängiger Information, Vertrauen und Akzeptanz ................................ 115 Abbildungsverzeichnis XVIII Abbildung 36: Umgang mit Fehlern und Nacharbeitsschritten (Beispiel) ................................. 117 Abbildung 37: Übertragung der Montageabläufe und -zeiten von anderen Produkten .............. 120 Abbildung 38: Gleiche Prozessergebnisse mit unterschiedlicher ID (Beispiel) ......................... 121 Abbildung 39: Modularer Aufbau des Algorithmus/ Architektur des Prototyps ........................ 123 Abbildung 40: Charts der prototypischen Implementierung ....................................................... 124 Abbildung 41: Screenshots des interaktiven Tools zur Visualisierung des Graphen ................. 125 Abbildung 42: Fallbeispiel 1 – Beispielprodukt Hinterachse eines Modellfahrzeugs (a), Arbeitsbereich in Ansicht von oben (b) .............................................................. 128 Abbildung 43: Fallbeispiel 1 – Übersicht über die Anzahl der Montageschritte je Durchlauf .. 129 Abbildung 44: Fallbeispiel 1 – Entwickelter Montagegraph ...................................................... 131 Abbildung 45: Fallbeispiel 1 – Varianz der Prozessdauer unabhängig von der Position des Montageprozesses im Montageablauf ................................................................. 132 Abbildung 46: Fallbeispiel 2 – Arbeitsplatzsystem .................................................................... 135 Abbildung 47: Fallbeispiel 2 – Sensoren an Werkzeugen, Bauteilen und der Materialbereitstellung .......................................................................................... 137 Abbildung 48: Fallbeispiel 2 – Benötigte Zeit je Durchlauf (a), Übersicht über die Anzahl der Montageschritte je Durchlauf (b) .................................................................. 139 Abbildung 49: Fallbeispiel 2 – Schematische Darstellung des Montageablaufs je Durchlauf ... 141 Abbildung 50: Fallbeispiel 2 – Übersicht über den entwickelten Montagegraphen ................... 142 Abbildung 51: Fallbeispiel 2 – Detaillierter Auszug des Anfangs des Montagegraphen ........... 143 Abbildung 52: Fallbeispiel 2 – Montagegraph ........................................................................... 143 Abbildung 53: Fallbeispiel 2 – Gantt-Chart mit Best-Practice-Montageablauf ......................... 144 Abbildung 54: Fallbeispiel 1 – Gantt-Chart mit Best-Practice-Montageablauf ......................... 224 Tabellenverzeichnis XIX Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Entdeckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang ................................ 15 Tabelle 2: Eigenschaften eines soziotechnischen Montagesystems .............................................. 32 Tabelle 3: Organisationsformen der Montage ............................................................................... 37 Tabelle 4: Bewertung der Ansätze zur automatisierten Generierung einer Montageablaufplanung aus Sicht der Montage ..................................................... 62 Tabelle 5: Anforderungen an das Modell ...................................................................................... 76 Tabelle 6: Gegenüberstellung und Bewertung der Modellierungsmethoden anhand der an sie gestellten Anforderungen ...................................................................................... 84 Tabelle 7: Morphologischer Kasten zur Analyse des Modellverhaltens unter Extrembedingungen ............................................................................................... 89 Tabelle 8: Analyse des Modellverhaltens unter Extrembedingungen ........................................... 90 Tabelle 9: Beispielhafter Aufbau einer Prozessliste ..................................................................... 96 Tabelle 10: Auswahl der Modellierungsmethode für die Montageabläufe ................................... 98 Tabelle 11: Beispielhafte Datentabelle eines Best-Practice-Montageablaufs ............................. 107 Tabelle 12: Best-Practice-Montageablauf mit Vorgabezeiten .................................................... 114 Tabelle 13: Varianz in der Anzahl der Prozesse ......................................................................... 116 Tabelle 14: Bedeutung der Organisationsform der Montage für die Methodik .......................... 118 Tabelle 15: Anzahl der Mitarbeitenden (MA) und Arbeitsplätze (AP) je Produkt ..................... 119 Tabelle 16: Fallbeispiel 1 – Best-Practice-Montageablauf ......................................................... 133 Tabelle 17: Fallbeispiel 1 – Leistungsgradberechnung ............................................................... 134 Tabelle 18: Fallbeispiel 2 – Montagedurchläufe ......................................................................... 138 Tabelle 19: Erklärung der verwendeten Begriffe der Methode ................................................... 217 Tabelle 20: Fallbeispiel 1 – Prozessliste ..................................................................................... 223 1 Einleitung 1 1 Einleitung 1.1 Ausgangssituation Unternehmen befinden sich heute in einem volatilen Umfeld. Sie müssen sich immer wieder an Veränderungen anpassen (Kohl et al. 2021, S. 4). Eine Studie der Staufen AG (2022, S. 25) zeigt, dass sich mehr als drei Viertel der befragten Unternehmen innerhalb der letzten Jahre sehr stark bis stark verändert haben. Im Vergleich zur Befragung von 2019 wird deutlich, dass die Dynamik weiter ansteigt (Staufen AG 2022, S. 24). Es überleben nur die Unternehmen langfristig, die in der Lage sind, sich mindestens genauso schnell anzupassen und zu lernen, wie sich das Umfeld ändert (Doppler et al. 2014, S. 21). Gefragt sind deshalb Strategien, die es erlauben, die Produktion immer häufiger an neue Prozesse und Produkte anzupassen (Spath et al. 2013, S. 107). Wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, technologischer und ökologischer Wandel Besondere Herausforderungen, denen sich produzierende Unternehmen gegenüber sehen, ergeben sich aus den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, technologischen und ökologischen Veränderungen und ihrer komplexen Interaktion (Bauernhansl et al. 2018, S. 28), siehe Abbildung 1. 1 Einleitung 2 Abbildung 1: Herausforderungen für die Industrie1 Unternehmen stehen in einem zunehmenden globalen Wettbewerb. Verdeutlicht werden kann dies beispielsweise anhand der Außenhandelsquote2 Deutschlands, welche von ca. 42 % im Jahr 1991 auf ca. 66 % im Jahr 20203 gestiegen ist (Statistisches Bundesamt 2021, S. 184). Die Außenhandelsquote gibt Hinweise darauf, wie eine Volkswirtschaft außenwirtschaftlich verflochten ist und wird auch mit Offenheitsgrad umschrieben (Statistisches Bundesamt 2020). Eine über die Jahre zunehmende Außenhandelsquote, wie in Deutschland, beschreibt einen zunehmenden Offenheitsgrad. Deutsche Unternehmen konkurrieren zum einen mit Unternehmen weltweit um die besten Dienstleistungen und Produkte, zum anderen stehen sie in Konkurrenz mit Unternehmen, die sich in anderen Wirtschaftssystemen befinden und zum Beispiel stärker staatlich subventioniert werden (BMWi 2019, S. 9). Dies erzeugt auf die Unternehmen einen hohen Kostendruck. Gleichzeitig verändern sich die Kundenbedürfnisse. Eine Metastudie zur „Mass Personalization“ von Fraunhofer4 fasst zusammen, dass Unternehmen verstärkt den individuellen Wünschen der Kunden begegnen müssen (Wehner et al. 2016, S. 21). Technologiefortschritte ermöglichen es Konsumenten, genau das zu bekommen, was sie wollen (Knapp et al. 2022, S. 12). Unternehmen setzen daher häufig auf individualisierte Produkte sowie auf Marktnischen (Große-Heitmeyer & 1Kriterien und Kategorien in Anlehnung an Bauernhansl et al. (2018, S. 28), teilweise verändert und ergänzt. Abbildung in eigener Darstellung. 2Die Außenhandelsquote beschreibt das „Verhältnis des Außenhandelswertes (die Summe der Exporte und der Importe) an der gesamten Wirtschaftsleistung (BIP) (Statistisches Bundesamt 2020). 3Im Corona-Krisenjahr 2020 ist die Außenhandelsquote im Vergleich zum Vorjahr 2019 mit ca. 70 % jedoch um vier Prozentpunkte gesunken. 2011 lag die Außenhandelsquote sogar bei knapp 73 %. (Statistisches Bundesamt 2021, S. 184). 4Fraunhofer-Institute IAO, IBP, IGB, IPA und IRB. 1 Einleitung 3 Wiendahl 2004, S. 6; Staufen AG 2020, S. 5). Der Trend geht zudem zu kleineren Stückzahlen je Variante (Hellmich et al. 2022, S. 3) bis hin zur Stückzahl eins (Koren 2010, S. 34–35). Die Folge der gestiegenen Individualität der Produkte ist eine Ausweitung des Produktspektrums (Hu et al. 2008, S. 45). Durch die erhöhte Varietät nimmt die Komplexität im Produkt, im Produktionssystem und im Prozess zu (Große-Heitmeyer & Wiendahl 2004, S. 6; Staufen AG 2020, S. 5; Knapp et al. 2022, S. 12), während die Effizienz bzw. die Wirtschaftlichkeit des Systems tendenziell abnimmt (Köster 1998, S. 35). Auch nimmt die Innovationsdynamik zu. Die Zeit, um ein neues Produkt auf den Markt zu bringen oder Änderungen am bestehenden Produkt vorzunehmen, wird kürzer (Feldmann et al. 2014, S. 5; Heidelbach et al. 2020, S. 8). Auch die Zeit, in der sich das Produkt amortisieren muss, nimmt ab (Abele & Reinhart 2011, S. 41). Entscheidend ist es, Produkte innovationsschnell zu minimalen Kosten herzustellen (Bauernhansl et al. 2018, S. 34) und auch die Innovationsdynamik im Bereich der Produktionsprozesse hochzuhalten (Große-Heitmeyer & Wiendahl 2004, S. 3). Darüber hinaus ändert sich die demografische Struktur unserer Gesellschaft (Abbildung 2). Während der Anteil der 20- bis 67-Jährigen am stärksten abnimmt, zeigt sich die größte anteilsmäßige Zunahme (laut Statistik) bei den Menschen mit 67 Jahren und älter (vdek 2022, S. 8). Diskussionen zu einem bereits heute existierenden Fachkräftemangel treten immer wieder auf, sind allerdings ambivalent. Einige Beispiele hierzu: Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung gibt an, dass Unternehmen 2019 fast doppelt so lange benötigten, um eine Stelle zu besetzen, als noch 2010 (Slupina et al. 2019, S. 38). Dennoch gebe es noch keinen flächendeckenden Fachkräftemangel (Slupina et al. 2019, S. 38). Auch die Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB zeigt, dass die Anzahl der unbesetzten Stellen in Deutschland zunimmt (IAB 2021). In einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln e.V. gaben über 90 % der Unternehmen an, dass der Fachkräftemangel für sie präsent sei, jedoch nur ca. 40 % empfinden diesen als existenziell oder dringlich (Stippler et al. 2019, S. 6). Auch in der Studie von Hays wird deutlich, dass zwar der Großteil der Führungskräfte im Fachkräftemangel eine große Herausforderung für die Wirtschaft sieht, für das eigene Unternehmen sehen ihn allerdings nur ca. 40 % der Führungskräfte als kritisch (Schabel et al. 2019, S. 8). Ebenso sehen in der DIHK-Konjunkturumfrage nur etwas mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen den Fachkräftemangel als kritisch für ihr Unternehmen (DIHK 2022, S. 13). 1 Einleitung 4 Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland nach Altersgruppen bis 2060 (vdek 2022, S. 8) Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie künftig verstärkt um Arbeitskräfte konkurrieren müssen (Slupina et al. 2019, S. 38). Auch werden an die Einbindung und die Befähigung der Montagemitarbeitenden besondere Anforderungen gestellt (Schuh et al. 2008, S. 671). Zukünftig müssen verstärkt ältere und evtl. auch ungelernte Mitarbeitende in die Produktion eingebunden werden (Schuh et al. 2008, S. 671). Auch die Qualifikationsprofile ändern sich (Schuh et al. 2008, S. 671). Der Wandel in der Altersstruktur wird sich außerdem auf die Produktivität der Gesamtwirtschaft entscheidend auswirken und nur eine Produktivitätssteigerung kann dem demografischen Wandel, mit einem höheren Anteil an Nicht-Erwerbstätigen, entgegenwirken (Bauernhansl et al. 2018, S. 32). Parallel nehmen die Digitalisierung und Vernetzung zu und wirken als Wettbewerbsfaktor und Innovationsmotor auf die Industrie (Bauernhansl et al. 2018, S. 35). Sie haben einerseits einen starken Einfluss auf die Wertschöpfung (Warnke et al. 2019, S. 15), bieten andererseits aber auch Potentiale, um die Produktivität zu steigern (Bauernhansl et al. 2018, S. 35). Industrie 4.0 bietet etwa neue Werkzeuge, um Optimierungspotentiale weiter zu heben. Mit cyber-physischen Systemen können Menschen, Ressourcen und Dienste in Echtzeit vernetzt werden (Bauernhansl et al. 2016, S. 6). Das BMWi spricht in seiner „Industriestrategie 2030“ (2019, S. 8) von Industrie 4.0 und der Künstlichen Intelligenz als „Game-Changer-Technologien“, die einen Strukturwandel ermöglichen. 1 Einleitung 5 Ebenso nimmt das verfügbare Wissen zu. Wissen gilt als entscheidender Wettbewerbsfaktor (Wesoly et al. 2009, S. 700) und verbreitet sich immer schneller5 (Westkämper et al. 1997, S. 639; Abele & Reinhart 2011, S. 18; Westkämper & Löffler 2016, S. 2). Beschleunigt wird dies durch neue Informationstechnologien (Keeley 2007, S. 14; Abele & Reinhart 2011, S. 18). Unternehmen muss es gelingen, neues Wissen schneller für kundenspezifische und marktfähige Lösungen zu nutzen und Produkte rationell und schnell zu produzieren (Westkämper & Löffler 2016, S. 2). Vor allem die Kompetenz und die Erfahrung der Mitarbeitenden sind entscheidend für den Erfolg eines Unternehmens (Bauernhansl 2016, S. 20). Der ökologische Wandel beschreibt die Notwendigkeit, Ressourcenverbrauch und Wachstum zu entkoppeln. Die vorhandenen Ressourcen werden immer knapper; zum einen aufgrund der begrenzten Ressourcen und zum anderen aufgrund des gestiegenen weltweiten Ressourcenverbrauchs. Auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die vorgeben, Emissionen und Abfälle zu reduzieren, nehmen zu. Es muss gelingen, den Ressourcenverbrauch zu senken und gleichzeitig die Wirtschaftsleistung zu steigern. (Bauernhansl et al. 2018, S. 29–31) Bedeutung für die manuelle Montage und ihre Planung Die Montage ist „einer der komplexesten Bereiche innerhalb produzierender Unternehmen“ (Reinhart & Zäh 2007, S. 602) und vereint alle vorgelagerten Prozesse (Whitney 2004, S. 1; Günthner et al. 2006, S. 74). Sie ist durch ihre Stellung im Produktionssystem – am Ende der Wertschöpfungskette und mit ihrer Nähe zum Kunden – besonders durch die Änderungen im Umfeld betroffen (Lotter 1986, S. 328; Gagsch & Herbst 2001, S. 37; März & Langsdorff 2001, S. 3). Ein Montagesystem wird vor allem dann manuell ausgelegt, wenn eine hohe Flexibilität benötigt wird, die Variantenzahl groß und die Stückzahlen gering sind. In der Montageplanung müssen die Ressourcen so zu einem Montagesystem kombiniert werden, dass ein Montageauftrag optimal ausgeführt werden kann (Reinhart & Schneider 1996, S. 1243). Optimal bedeutet, die Zieldimensionen für ein Montagesystem – Variabilität, Qualität, Zeit, Wirtschaftlichkeit und Mitarbeitende (Erlach 2010, S. 14; Feldmann et al. 2014, S. 602) – bestmöglich zu erfüllen. Vor allem das volatile Umfeld und die Herausforderungen, insbesondere 5Abele & Reinhart (2011, S. 18) sprechen sogar von einem exponentiellen Wachstum des Wissens über alle Disziplinen, besonderen Wissenszuwachs haben allerdings die technischen Bereiche. 1 Einleitung 6 der wirtschaftliche, gesellschaftliche und technologische Wandel6 haben große Auswirkungen auf die manuelle Montage, ihre Ziele und ihre Planung. 1.2 Problemstellung Die Montageablaufplanung ist einer der ersten Schritte der Montageplanung. Sie identifiziert die Arbeitsinhalte und Vorrangsbeziehungen, leitet mögliche Montageabläufe ab, ermittelt Montagezeiten und legt einen optimalen Montageablauf fest (Kapitel 2.4). Der Montageablauf bildet die Grundlage für die weiteren Schritte der Planung und so kommt der Montageablaufplanung eine entscheidende Bedeutung zu. Der Planungsaufwand hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen (Müller et al. 2016, S. 25). In Unternehmen ist der Aufwand für die Arbeitsplanerstellung bereits hoch und es wird noch eine weitere Zunahme erwartet (Schuh et al. 2017a, S. 13). Daneben nehmen auch die Planungsfrequenzen zu (Westkämper 2000, S. 92). Je größer die Variantenvielfalt der Produkte und je kleiner die Stückzahlen, desto herausfordernder ist die Arbeitsplanerstellung. Vor allem bei kleinen Stückzahlen amortisiert sich der hohe Planungsaufwand häufig nicht. Dies hat zur Folge, dass bei kleinen Stückzahlen weniger detailliert geplant7 und mehr Verantwortung in die Produktion verlagert wird. (Mayer 1994, S. 51–52; Koether 2017, S. 25) In Industrieprojekten des Fraunhofer IPA hat sich gezeigt, dass Unternehmen den Montageablauf im herausfordernden Umfeld oft entweder initial planen oder gar nicht bzw. in einer unzureichenden Planungstiefe. Die Folge sind große Ineffizienzen, was zu unnötigen Kosten führt. Insbesondere manuelle Montagesysteme haben durch ihren hohen Anteil an nicht wertschöpfender Zeit noch besonders großes Optimierungspotential. Die vorhandenen Arbeitspläne und Montageanleitungen sind häufig nicht korrekt, nicht aktuell, nicht vollständig oder sie sind zu komplex (Schuh et al. 2017a, S. 16; Claeys et al. 2019, S. 1927). Dies gilt insbesondere bei Änderungen, für die die vorhandenen Unterlagen nicht mehr aktuell sind und deren Aktualität nur mit relativ großem Aufwand sicherzustellen ist (Adami & Houben 2008, S. 78). Die Mitarbeitenden in der Montage haben dadurch häufig keine Dokumentation über den korrekten 6Der ökologische Wandel bedeutet für die Montage, weniger Verschwendung zu erzeugen und einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen sicherzustellen. Allerdings sind der Ressourcenverbrauch und der Energiebedarf in einer (manuellen) Montage im Vergleich zur restlichen Produktion eher gering. Daher soll der ökologische Wandel an dieser Stelle nicht weiter betrachtet werden. 7Kampker et al. (2014, S. 517) diskutieren, wie viel Aufwand sich für die Montageplanung über den Nutzen rechtfertigen lässt. Je größer die Planungstiefe, desto größer der Nutzen, aber desto größer auch der Aufwand. Der Nutzen erreicht mit zunehmender Planungstiefe eine Grenze, der Aufwand nimmt jedoch stark zu. 1 Einleitung 7 bzw. den besten Montageablauf. Es ist oft auch nicht klar, in welcher Zeit Arbeitsschritte ausgeführt werden sollen. Aufgrund der Variantenvielfalt und der erhöhten Komplexität werden jedoch Arbeitspläne immer wichtiger (Günthner et al. 2006, S. 75). Erfahrene Mitarbeitende können Defizite in der Planung und der Gestaltung zwar oft kompensieren (Pfeiffer 2008, S. 36), neuen oder ungelernten Mitarbeitenden ist dies jedoch nicht möglich. Die Planung von Montagesystemen8 muss sich, ausgehend von einer oft initialen Tätigkeit, zu einer kontinuierlichen Tätigkeit verändern (Westkämper et al. 1997, S. 641–642; Günthner et al. 2006, S. 70; Müller et al. 2016, S. 25). Wichtig sind außerdem eine hohe Realitätsnähe, kurze Planungszeiten und eine partizipative Planung (Westkämper 2000, S. 92–95). Die Planungskosten sollten jedoch nicht erhöht werden und die Planungsqualität darf sich nicht verschlechtern (Westkämper et al. 1997, S. 640). Besonders im volatilen und herausfordernden Umfeld bedarf es Methoden zur Planung des Montageablaufs, die durch einen geringen Planungsaufwand eine Veränderung des Montagesystems, auch in kurzen zeitlichen Abständen, unterstützen und mit derer Hilfe eine hohe Produktivität des Montagesystems erreicht werden kann. Sie sollten möglichst realitätsnah sein und mit der zunehmenden Zahl an Produktvarianten bei gleichzeitig geringen Stückzahlen umgehen können. Die Mitarbeitenden in der Montage müssen befähigt werden, die Montageaufgabe auszuführen. Ferner sollten das verfügbare Wissen und die neuen Technologien bestmöglich genutzt werden. Eine Lösung, den Aufwand für die Montageplanung zu verringern, bieten Ansätze zur Automatisierung der Montageablaufplanung. Diese Ansätze gehen die Problemstellung von zwei Seiten an: Auf der einen Seite gibt es Ansätze, die Montageablaufplanung weiter in die vorherigen Prozesse, wie etwa die Produktentwicklung, zu integrieren. Auf der anderen Seite gibt es Ansätze, die den Montageablauf aus der Montage heraus optimieren. Diese Ansätze erfüllen die abgeleiteten Anforderungen an eine Montageablaufplanung jedoch nicht vollständig und bieten nur bedingt eine Lösung in Bezug auf die Herausforderungen des Umfelds. Die vorhandenen Planungsmethoden erfordern oft noch einen großen Aufwand. Auch können die verfügbaren Planungsmethoden häufig nicht mit der gestiegenen Zahl an Varianten bei gleichzeitig geringer Stückzahl umgehen. Weiter stellen sie die benötigte Realitätsnähe der Planung und die Befähigung der Mitarbeitenden, die Montageaufgabe auszuführen, nicht immer ausreichend sicher. Ferner nutzen die bestehenden Ansätze das verfügbare Wissen nur bedingt. 8Die Autoren sprechen von Produktionssystemen. Da ein Montagesystem aber Teil des Produktionssystems ist (Kapitel 2.2), kann die Aussage auf Montagesysteme übertragen werden. 1 Einleitung 8 Viele Unternehmen haben schon erkannt, dass das Wissen der Mitarbeitenden bei der Planung wichtig ist und auch Mitarbeitende möchten ihre Erfahrung weitergehend in die Optimierung und Gestaltung der Montage einbringen (Pfeiffer 2008, S. 35–36). Im Planungsprozess wird das bereits vorhandene Wissen der Montagemitarbeitenden jedoch oft noch wenig genutzt. Vor allem in Montagesystemen, in denen der Ablauf bisher wenig detailliert geplant wurde, haben die Mitarbeitenden einen großen Erfahrungsschatz. Sie wissen genau, wie die Produkte montiert werden müssen. Dieses explizite und implizite Wissen ist für die Planung allerdings oft nicht zugänglich. Den Herausforderungen gegenüber stehen die technologischen Neuerungen im Bereich der Digitalisierung und Vernetzung. Sie erlauben eine Unterstützung der Produktion, zum Beispiel durch die Verfügbarkeit von aktuellen Daten aus der Produktion und deren Verknüpfung mit Planungswerkzeugen (Spath 2013, S. 199). Die Erwartungen an die Digitalisierung im Bereich der Produktivitätserhöhung sind bisher jedoch noch nicht erfüllt (Bauernhansl et al. 2018, S. 32) und auch für die Montageablaufplanung werden die technologischen Neuerungen noch nicht ausreichend genutzt. 1.3 Zielsetzung, Forschungsfrage und Lösungs- hypothese In dieser Arbeit wird die Verbesserung der Produktivität der Montageablaufplanung und des zu planenden Montagesystems im herausfordernden Umfeld – bei einer hohen Anzahl an Varianten, kleinen Stückzahlen, häufigen Änderungen und der damit induzierten Komplexitätserhöhung – adressiert. Für jede Variante eines Produkts wird automatisiert eine Montageablaufplanung generiert und bereitgestellt. Auch werden das bereits vorhandene Wissen in der Montage sowie die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung für ihre Planung genutzt. Ziel der Arbeit ist es, eine Methodik zu entwickeln, die automatisiert auf Basis von Ist-Daten eine Montageablaufplanung generiert. Diese Methodik soll die Produktivität in einem manuellen Montagesystem erhöhen und den Planungsaufwand verringern. Aus der Zielsetzung resultiert folgende Forschungsfrage: Wie kann in einem manuellen Montagesystem durch die automatische Generierung einer Montageablaufplanung auf Basis von Ist-Daten die Produktivität verbessert und der Planungsaufwand verringert werden? 1 Einleitung 9 Um diese Frage zu beantworten, müssen folgende Fragestellungen beantwortetet werden:  Wie kann ein generisches Modell aufgebaut werden, das unterschiedliche manuelle Montagesysteme abbildet und die Anwendung der Methode in diesen Systemen ermöglicht?  Wie muss eine Methode gestaltet sein, damit diese weitgehend automatisiert und effizient einen produktiven Montageablauf generiert? Der Aufgabenstellung wird mit folgenden beiden Lösungshypothesen begegnet: Lösungshypothese 1: Eine Adaption des Benchmarking-Ansatzes auf die manuelle Montage und die Nutzung des Wissens der Mitarbeitenden reduzieren den Planungsaufwand. Lösungshypothese 2: Die Ableitung einer Best Practice auf Basis von Ist-Daten führt zu einem durchführbaren und produktiven Montageablauf. Im Folgenden wird die Anwendungs-, die Gestaltungs- und die Ergebnisdimension der Zielsetzung zusammengefasst9. Anwendungsdimension Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit können zur Montageablaufplanung in bestehenden manuellen Montagesystemen angewendet werden. Sie sind besonders geeignet, wenn diese Montagesysteme eine hohe Anzahl an Varianten abbilden, deren Stückzahlen gering sind und diese häufigen Änderungen unterliegen, etwa bezüglich neuer Produktvarianten. Die Ergebnisse können sowohl in einem einmaligen Optimierungsprojekt als auch kontinuierlich eingesetzt werden. Weiter können diese in allen Branchen der Stückgüterindustrie verwendet werden. Die Ergebnisse bringen vor allem dann einen Mehrwert, wenn Montageanweisungen nicht oder nur in ungenügender Form vorhanden sind. 9Die Struktur wurde von Bauernhansl (2003, S. 10) übernommen. 1 Einleitung 10 Gestaltungsdimension Die vorliegende Arbeit legt ein soziotechnisches Systemverständnis für das Montagesystem zu Grunde und kann mit dessen Offenheit, Dynamik, Komplexität und Probabilität umgehen10. Um eine hohe Realitätsnähe sicherzustellen, führt sie auf Basis von Ist-Daten einen Benchmark über die Montageabläufe, die von den Mitarbeitenden ausgeführt wurden, durch. Ergebnisdimension Auf Basis unterschiedlicher Montagedurchläufe werden eine Montageablaufplanung und Vorgabezeiten generiert und so die Produktivität des Montagesystems verbessert. Eine klassische manuelle Montageablaufplanung ist nicht mehr notwendig, wodurch sich der Aufwand im volatilen Umfeld reduziert. 1.4 Wissenschaftstheoretische Einordnung 1.4.1 Positionierung der Arbeit Die Wissenschaften11 lassen sich in zwei Hauptgebiete unterteilen: die Formal- und die Realwissenschaften (Carnap 1935, S. 30). Die Formalwissenschaft beschreibt die Logik, inklusive der Mathematik (Carnap 1935, S. 30) sowie der Philosophie (Ulrich & Hill 1976a, S. 305). Die Realwissenschaft zielt darauf ab, Ausschnitte der Wirklichkeit zu erklären und zu gestalten (Ulrich & Hill 1976a, S. 305). Sie umfasst die Tatsachenwissenschaften, wie zum Beispiel die Biologie, die Physik und die Soziologie (Carnap 1935, S. 30). Die Realwissenschaft lässt sich in Grundlagen- und Handlungswissenschaften untergliedern (Ulrich & Hill 1976a, S. 305). Grundlagenwissenschaften haben das Ziel, Ausschnitte der Wirklichkeit zu erklären und stellen Erklärungsmodelle in den Vordergrund (Ulrich & Hill 1976a, S. 305). Handlungswissenschaften bzw. angewandte Wissenschaften analysieren menschliche Handlungsalternativen, um technische und soziale Systeme zu gestalten und entwickeln Entscheidungsmodelle (Ulrich & Hill 1976a, S. 305). Die angewandten Wissenschaften sind interdisziplinär und sie gestalten eine zukünftige Realität (Ulrich 1984, S. 12). Die von ihnen 10Siehe hierzu Kapitel 2.2. 11Wissenschaft beschreibt eine „Wissen hervorbringende forschende Tätigkeit in einem bestimmten Bereich“ (Duden 2015). Wissenschaftstheorie ist ein „Teilgebiet der Philosophie, in dem die Voraussetzungen, Methoden, Strukturen, Ziele und Auswirkungen von Wissenschaft untersucht werden“ (Duden 2015). Sie wird „auch als Wissenschaftswissenschaft ("Science of Science" oder "Philosophy of Science") bezeichnet“ (Ulrich & Hill 1976a, S. 305). 1 Einleitung 11 gemachten Aussagen sind wertend und normativ. Eine Bewertung der Regeln und Modelle erfolgt aufgrund ihrer Problemlösungskraft in der Praxis (Ulrich 1984, S. 12). Die Ingenieurwissenschaften werden von der Expertenkommission Ingenieurwissen- schaften@BW2025 wie folgt definiert: „Die Ingenieurwissenschaften dienen der Gesellschaft durch Erkennen und Gestalten technischer Möglichkeiten mit Hilfe von spezifischen Methoden. Sie sind institutionalisiert in sich beständig wandelnden, eigenständigen Disziplinen.“ (Bauernhansl & Nestler 2015, S. 5) Das Dienen der Gesellschaft stellt die Anwendungsorientierung der Ingenieurwissenschaften in den Vordergrund (Bauernhansl & Nestler 2015, S. 5–6). Die klare Unterscheidung in Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung gilt für die Ingenieurwissenschaften immer weniger (Bauernhansl & Nestler 2015, S. 5–6). Die Ingenieurwissenschaften sind also den Grundlagenwissenschaften und den angewandten Wissenschaften zuzuordnen. Ziel der Arbeit ist es, eine Methodik zur automatisierten Generierung einer Montageablaufplanung zu entwickeln. Aufgrund des starken Praxisbezugs und der methodischen Herangehensweise ist die vorliegende Arbeit im Wesentlichen den Realwissenschaften, insbesondere den angewandten Wissenschaften, zuzuordnen. Sie verwendet allerdings Elemente aus den Formalwissenschaften12, wie zum Beispiel die Modellierungs- oder Optimierungsmethoden. Das entwickelte Modell lässt sich den Entscheidungsmodellen zuordnen. Abbildung 3 macht deutlich, wie die Arbeit wissenschaftssystematisch positioniert ist. 12Ulrich & Hill (1976a, S. 306) führen aus, dass Realwissenschaften immer auch auf Elemente der Formalwissenschaften zurückgreifen. 1 Einleitung 12 Abbildung 3: Wissenschaftssystematik und Positionierung der Arbeit (in Anlehnung an Ulrich & Hill (1976a, S. 305), Bauernhansl (2003, S. 12), Zohm (2004, S. 6) und Bauernhansl & Nestler (2015, S. 5–6)) 1.4.2 Forschungsmethodologie Die Forschungsmethodologie13 beschreibt das Vorgehen im Erkenntnisprozess. Es gibt hierbei zwei grundlegende Richtungen, wie Erkenntnisse gewonnen werden können: die Deduktion und die Induktion. Bei der Deduktion erfolgt die Absicherung der Erkenntnisse über die Falsifikation; bei der Induktion erfolgt diese über Verifikation. (Töpfer 2010, S. 113) Popper ist mit seinem „Kritischen Rationalismus“ ein bekannter Vertreter der deduktiven Forschungsmethodik. Er beschreibt, dass ein System so lange vorläufig Bestand hat, bis es falsifiziert wurde. Wird ein System deduktiv geprüft, hält es dieser Prüfung stand und wird es durch weitere Entwicklungen nicht überholt, so spricht Popper davon, dass sich das System bewährt hat. Die Grundlage bilden Hypothesen, aus denen nach erfolgreicher Prüfung, etwa auf ihre Vereinbarkeit und Widersprüche zu anderen Hypothesen, deduktiv Schlüsse gezogen werden. (Popper 2005, S. 1–9) Die Erkenntnisgewinnung erfolgt durch eine andauernde Elimination von Hypothesen, die falsifiziert werden (Sandig 1981, S. 6). Entscheidend dafür ist, dass die Hypothesen eindeutig 13Methodologie beschreibt die „wissenschaftlich fundierte Untersuchung von Methoden(-systemen), nach denen in gegebenen Wissenschaftsgebieten gearbeitet wird“ (Müller 1990, S. 2). 1 Einleitung 13 aufgestellt werden, damit sie nachprüfbar und ggfs. falsifizierbar sind (Kubicek 1977, S. 6). Die Entdeckung der Hypothesen beinhaltet nach Popper immer ein „irrationales Moment“ (Popper 2005, S. 8). Holzkamp (1972, S. 90) kritisiert, das Ziel des wissenschaftlichen Vorgehens sei nicht das Finden von Daten, die eine Hypothese widerlegen. Vielmehr ist die Intention des Forschenden, Daten zu suchen, die eine Hypothese stützen. Sollten Beobachtungen gegen die eigene Hypothese sprechen, so schließe der Forschende meistens auf noch unbekannte Störfaktoren und konstruiere sich so eine andere Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu steht die Grundidee des induktiven Erkenntnisprozesses mit ihrem Ableiten von allgemeinen Schlüssen aus einer Summe von einzelnen Fällen (Töpfer 2010, S. 64). Aus vorhandenen Daten werden Gesetzmäßigkeiten oder Hypothesen abgeleitet (Balzer 1997, S. 260). Kubicek (1977) vertritt die induktive Methodik. Anstatt über die Prüfung der Hypothesen seiner Meinung nach einen Umweg zu gehen, schlägt er vor, „theoretisch geleitete Fragen an die Realität“ zu stellen, um Fortschritte zu erreichen (Kubicek 1977, S. 14). Ein wesentlicher Baustein seiner Methodik ist der heuristische Bezugsrahmen (Kubicek 1977, S. 16; Rößl 1990, S. 99–100). Er hat im Wesentlichen zwei Funktionen: Einerseits expliziert er das Vorverständnis, den Entdeckungszusammenhang, und macht so die Subjektivität, die bei einem Forschungsprozess immer vorhanden ist, transparent (Kubicek 1977, S. 16; Rößl 1990, S. 99–100). Andererseits unterstützt er den Forschenden beim Aufbau von Erfahrungswissen (Kubicek 1977, S. 16) und bildet einen „Theorieersatz zur Deduktion einer Prüfprozedur“ (Rößl 1990, S. 99). Es gibt neben der rein induktiven oder deduktiven Forschungsmethodologie auch weitere Methodiken, die Elemente aus beiden Richtungen der Erkenntnisgewinnung vereinen, wie zum Beispiel P. Ulrich (1976) mit seiner „Theorie der angewandten Forschung“, H. Ulrich (1984) mit „BWL als anwendungsorientierte Sozialwissenschaften“ oder Tomczak (1992) mit seinem „Realitätsorientierten Forschungsansatz“ (Schuh & Warschat 2013, S. 72). Auch in dieser Arbeit wurde eine Forschungsmethodologie gewählt, die induktive und deduktive Anteile hat. Die vorliegende Arbeit folgt der Forschungsmethodologie nach Ulrich (1984). Die Methodologie wird in den angewandten Wissenschaften verwendet und kommt ursprünglich aus den Betriebswissenschaften. Der Ansatz wurde dennoch für eine ingenieurwissenschaftliche Dissertation gewählt, da im Mittelpunkt der Arbeit ein soziotechnisches System – das Montagesystem – steht und die Arbeit einen besonderen Fokus auf die Praxisnähe legt. Besonderheit bei der Methodologie nach Ulrich (1984) ist, dass abwechselnd die praxis- und die wissenschaftsorientierte Perspektive eingenommen wird (Ulrich 1984, S. 192–193; Schuh & 1 Einleitung 14 Warschat 2013, S. 43). Laut Ulrich (1984, S. 35) sind die Betriebswissenschaften und die Ingenieurwissenschaften eng verwandt. Der Schwerpunkt der Betriebswirtschaftslehre liegt, wie bei den Ingenieurwissenschaften, ebenso auf der Gestaltung – mit dem einzigen Unterschied, dass hier soziale und nicht technische Systeme gestaltet werden (Ulrich 1984, S. 35). Laut der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech (2013, S. 19) ist ein Ausleihen von Methoden aus anderen Wissenschaften und deren Spezifizierung auf den eigenen Anwendungsfall möglich. Bei der realwissenschaftlichen Forschung müssen Regeln zur Lösung von Subjektivitäts- und Kommunikationsproblemen befolgt werden. Subjektivitätsprobleme beschreiben eine subjektive Wahrnehmung der Wissenschaftlerin bzw. des Wissenschaftlers (z.B. aufgrund ihrer/ seiner Erfahrungen) sowie durch Interessensbezüge beeinflusste Werturteile. Um dem zu begegnen, ist es erforderlich, Regeln für die Beobachtung aufzustellen und Transparenz bei den Wertprämissen zu erzeugen. Kommunikationsprobleme entstehen durch das Verwenden von unpräzisen Formulierungen und durch eine Unschärfe bei der Abstraktion von Einzelphänomenen zu einem allgemeinen Schluss. Es müssen Regeln für die Induktion aufgestellt und eine präzise Sprache verwendet werden. (Ulrich & Hill 1976a, S. 306) Ulrich & Hill (1976a, S. 306) nennen drei Aspekte des realwissenschaftlichen Forschungsprozesses: den Entdeckungs-, den Begründungs- und den Verwendungszusammenhang unter deren Berücksichtigung die Subjektivitäts- und Kommunikationsprobleme gelöst werden müssen. Tabelle 1 fasst diese drei Aspekte zusammen. 1 Einleitung 15 Tabelle 1: Entdeckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang (in Anlehnung an Ulrich & Hill (1976a, S. 306–307)) Entdeckungs- zusammenhang Begründungs- zusammenhang Verwendungs- zusammenhang Beschreibung Entwicklung gedankli- cher Bezugsrahmen (konzeptuelle Basis) Empirische Fundierung des gedanklichen Be- zugsrahmens Interessensgebundene Verwendung von wis- senschaftlichen Aussagen Frage „Unter welchen Bedin- gungen gelangen Wis- senschaftler zu frucht- baren theoretischen Konzeptionen?“ „Unter welchen Bedin- gungen können singu- läre Beobachtungen überprüft und verallge- meinert werden?“ „Welche gesellschaftli- chen Funktionen kön- nen und sollen wissen- schaftliche Aussagen haben?“ Problem Heuristikproblem Induktionsproblem Relevanzproblem Kriterium Zweckmäßigkeits- kriterium Wahrheitskriterium Nutzenkriterium Im Folgenden wird der Entdeckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang der vorliegenden Arbeit näher erläutert. Forschung erreicht einen „hohen Erkenntniszugewinn […], wenn ein breiter Entdeckungszusammenhang mit einem methodisch fortschrittlichen Begründungszusammenhang gekoppelt wird, so dass ein zielgerichteter und zügiger Verwendungszusammenhang erreicht ist“ (Töpfer 2010, S. 62). 1.4.3 Entdeckungszusammenhang Der Entdeckungszusammenhang beschreibt, wie die oder der Forschende zu ihren oder seinen Hypothesen und Modellen kommt (Ulrich & Hill 1976b, S. 345). Die Autorin ist von einer ingenieurwissenschaftlichen Sicht auf Zusammenhänge geprägt, insbesondere bedingt durch ihr Studium des Wirtschaftsingenieurwesens mit technischem Schwerpunkt und die ingenieurwissenschaftliche Arbeit am Fraunhofer IPA. Die vorliegende Arbeit basiert auf den Erfahrungen, die die Autorin in ihrer Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in der Abteilung Fabrikplanung und Produktionsmanagement und dem Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb IFF der Universität Stuttgart machen konnte. Durch die Leitung und Bearbeitung einer Vielzahl von Industrieprojekten im Bereich Produktionsoptimierung und anwendungsorientierten Forschungsprojekten hat die Autorin einen 1 Einleitung 16 umfangreichen Einblick in die Problemstellungen der Praxis erhalten. Ein Arbeitsschwerpunkt waren Montageplanungen. Die Autorin leitete zudem das Applikationszentrums Industrie 4.014, bei dem sie viele Erfahrungen im Bereich Industrie 4.0 und der Optimierung auf Basis von Daten sammeln konnte. Schließlich übernahm die Autorin die Leitung der Gruppe Montageplanung und datengetriebene Montageoptimierung. Diese Tätigkeiten haben dazu beigetragen, das Verständnis der Autorin für den Bereich und die Probleme der Montage und der datengetriebenen Optimierung aufzubauen. Ferner ist die Autorin in der Europäischen Union aufgewachsen und hat so die Grundsätze der wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft verinnerlicht. Die Autorin ist, wie auch im Lissaboner Vertrag von 2007 verankert, dem sozialen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zugewandt (Europäische Union 2010). Der Nutzen der vorliegenden Arbeit wird folglich definiert als Beitrag zum Fortschritt und zur Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Popper führt aus, dass jede Erkenntnis mit Problemen beginnt, nicht mit Beobachtungen, Wahrnehmungen oder dem Sammeln von Tatsachen und Taten: „Kein Wissen ohne Probleme – aber auch kein Problem ohne Wissen“ (Popper 1969, S. 104). Die Idee zur vorliegenden Dissertation entstand während der Durchführung von Industrieprojekten, bei denen sich vielfach gezeigt hat, dass keine, unvollständige oder nicht korrekte Montageanweisungen vorhanden waren. Viele der Unternehmen, mit denen die Autorin in Kontakt stand, bewegten sich im Spannungsfeld zwischen einem variantenreichen Produktspektrum und einer guten Planung. Es zeigte sich der Bedarf nach einer Lösung, die ohne großen Aufwand zu einer Verbesserung der Montageablaufplanung und der Produktivität von Montagesystemen beiträgt. Ein Paradigma15, das die Arbeit wesentlich geprägt hat, ist die Systemtheorie, insbesondere mit ihrem ganzheitlichen Denken (Ropohl 2012, S. 20), der Anwendungsbreite (Bertalanffy 1984, S. 32), dem Vorgehen von grob nach fein (Patzak 1982, S. 6–7), den Unter- und Übersystemen (Patzak 1982, S. 214; Ropohl 2012, S. 74), der Interdisziplinarität (Ropohl 2009, S. 88), dem systemorientierten Strukturieren und Vorgehen (Patzak 1982, S. 6–7) sowie der Verwendung von Modellen (Bertalanffy 1984, S. 32), siehe auch Kapitel 2.2.1. 14Gefördert vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg, Aktenzeichen 7- 4332.62-IPA/43. 15Ein Paradigma (auch Erkenntnis- oder Erklärungsmuster) beschreibt ein „empirisch ausgerichtetes und bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht widerlegtes wissenschaftliches Aussagensystem bzw. Satzsystem […]“. Damit werden zugleich die Ausrichtung und der Inhalt einer Theorie festgelegt“ (Töpfer 2010, S. 118). Durch den Verweis eines Wissenschaftlers auf gegebene Paradigmen, kann er sich in seiner Arbeit darauf konzentrieren, wo die Lehrbücher aufhören und muss nicht das Fachgebiet noch von den grundlegenden Prinzipien überzeugen (Kuhn 1976, S. 34). 1 Einleitung 17 Die Modelltheorie bildet ebenfalls eine wertvolle Grundlage dieser Arbeit, zum Beispiel geprägt durch Wüstneck (1963), Stachowiak (1973) und Ropohl (2009). Sie wurde verwendet, um die Problemlösung zu unterstützen (acatech 2013, S. 9), die Realität besser zu verstehen und handzuhaben (Bandow & Holzmüller 2010, S. VII) sowie das originale System zu vereinfachen und auf die Grundzusammenhänge zu reduzieren (Stachowiak 1973, S. 139), siehe auch Kapitel 4.1.1. Des Weiteren wurden die Ergebnisse auch vom Gedanken des Montagesystems als soziotechnischem System geprägt (Trist & Bamforth 1951; Patzak 1982; Sydow 1985; Blumberg 1988; Dankbaar 1997; Ropohl 2009), siehe auch Kapitel 2.2. 1.4.4 Begründungszusammenhang Der Begründungszusammenhang beschreibt, „wie vorhandene Hypothesen und Modelle auf ihre Richtigkeit oder Wahrheit hin geprüft werden können“ (Ulrich & Hill 1976b, S. 345). Ulrich (1984) betont, dass der Begründungszusammenhang für die angewandten Wissenschaften nicht das Wichtigste ist. Die Realität sei für die angewandten Wissenschaften nur der Ursprung, von dem aus zukünftige Wirklichkeiten untersucht werden. Geprüft werden nicht Theorien auf ihre Gültigkeit, sondern das Modell auf seine Anwendbarkeit in der Praxis. Es werden nicht Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft, sondern die Gestaltungen auf ihren Nutzen und ihren Schaden betrachtet. Diese Tests sollen immer im Anwendungszusammenhang, also in der Praxis, durchgeführt werden. (Ulrich 1984, S. 174–175) Müller (1990) stellt dar, dass technologische und antizipierende Entwürfe nicht auf ihre Wahrheit prüfbar sind. Dies liegt daran, dass sie nur teilweise oder noch gar nicht bestehen und der Sachverhalt komplex ist und somit die Beurteilung der Wahrheit nicht ausreichend differenziert erfolgen kann. Er schlägt vor, die technische Erfüllbarkeit (für antizipative Entwürfe) und die technische Realisierbarkeit (für technologische Entwürfe und Handlungspläne) als Bewertungskriterium zu verwenden. Es soll darauf geachtet werden, dass eine Balance zwischen Aufwand und Detailtiefe gehalten wird, was Müller als „Ingenieurprinzip“ definiert. (Müller 1990, S. 8–9) In Anlehnung an Müller (1990, S. 9) soll in diesem Dissertationsvorhaben die Methodik auf ihre technische Erfüllbarkeit und technische Realisierbarkeit im Anwendungszusammenhang geprüft werden. Die antizipativen Entwürfe der Methodik, insbesondere das Modell, sollen in Anlehnung an Müller (1990, S. 9) folglich auf die folgenden Kriterien geprüft werden:  sie sind in geeigneten Anwendungsfällen instanziierbar 1 Einleitung 18  sie erfüllen die bei der Erstellung formulierten Anforderungen  das Modell ist dem System ähnlich und vollständig  das Modell genügt den Anforderungen der Anwender akzeptierbar Die technologischen Entwürfe und Handlungspläne, insbesondere die Methode, sollen in Anlehnung an Müller (1990, S. 9) folglich auf folgende Kriterien geprüft werden:  dass diese für eine Montageablaufplanung bestehender Montagesystemen genutzt werden können  dass diese einen Best-Practice-Montageablauf über einen Benchmark in der manuellen Montage erzeugen  dass diese die Montageplanenden bei den jeweiligen Anforderungen unterstützen (Planungsaufwand verringern, Produktivität verbessern) Als Validierungsfälle dieser Arbeit dienen die Montageablaufplanung einer Hinterachsmontage im Versuchsfeld des Fraunhofer IPA sowie die Montageablaufplanung bei einem deutschen Hersteller von Arbeitsplatzsystemen. Die Hypothesen dieser Arbeit wurden zunächst empirisch-induktiv aufgestellt und später in der Praxis kritisch reflektiert. Die Entwicklung der Methodik, also die Entwicklung des generischen Modells, die Entwicklung der Methode, die in den modellierten Systemen angewandt wird, sowie die Entwicklung und Auswahl der Hilfsmittel erfolgten weitgehend induktiv. Sie beinhaltet jedoch auch deduktive Schlüsse, etwa die Verwendung des Benchmarkings für den vorliegenden Fall, die Leistungsgradbetrachtung aus der Zeitermittlung oder die Anwendung von bestehenden Verfahren für die Optimierung. Gespräche mit Verantwortlichen aus der Produktion stützen die Ergebnisse dieser Arbeit.16 Bei der Entwicklung des Modells wurde der systemhierarchische Gedanke genutzt. Das Modell wurde zunächst in seinen Grundzügen strukturiert und dann im nächsten Schritt weiter detailliert.17 Weiter wurde das Modell iterativ entwickelt. Es wurde ein erster Modellentwurf konstruiert, der sukzessive verbessert wurde.18 16An wissenschaftliches Arbeiten wird einerseits eine „theoretische/ methodische Strenge und Exaktheit“ (Rigour) sowie eine „praktische/ reale Relevanz“ (Relevance) gestellt (Töpfer 2010, S. 56). Rigour wird in Kapitel 1.4.4 aufgegriffen, Relevance in Kapitel 1.4.5. 17In Anlehnung an Haberfellner et al. (2015, S. 44–45) und Daenzer et al. (2002, S. 17-19, 30-33), siehe Kapitel 5.2. 18In Anlehnung an Dörner (1999, S. 336–337) und Oertli-Cajacob (1977, S. 21), siehe Kapitel 5.2. 1 Einleitung 19 Besonderer Wert bei der Erstellung dieser Arbeit wurde darauf gelegt, die Ergebnisse nachvollziehbar und treffend zu beschreiben; eine einfache und klare Sprache unterstützt dies.19 Ulrich (1984) beschreibt einen Prozess für die angewandte Forschung. Dieser wird aufgrund seines engen Anwendungsbezugs – der Forschungsprozess fängt in der Praxis an, ist ausgerichtet am Anwendungszusammenhang und endet in der Praxis (Ulrich 1984, S. 192) – für die vorliegende Dissertation zu Grunde gelegt. Die Spiegelung am Praxiszusammenhang wird als wesentliche Aufgabe verstanden (Ulrich 1984, S. 192). 1.4.5 Verwendungszusammenhang Die Nützlichkeit gilt für die angewandten Wissenschaften als entscheidendes Forschungsregulativ (Ulrich 1984, S. 12). Die Relevanz dieser Arbeit gründet auf zwei Säulen: zum einen auf dem Erkenntnisdefizit der Theorie, zum anderen auf dem Bedarf und Nutzen der Industrie und Gesellschaft20. In den Kapiteln 1.1 und 1.2 wurde bereits auf die Relevanz der Aufgabenstellung, insbesondere auf das Erkenntnisdefizit der Theorie, hingewiesen. Der Nutzen für die Industrie und Gesellschaft lässt sich wie folgt begründen: Die Industrieunternehmen tragen in Deutschland wesentlich zum Wohlstand bei (BMWi 2019, S. 6) und auch für die westliche Wirtschaft insgesamt hat die industrielle Produktion eine essentielle Bedeutung (Westkämper & Löffler 2016, S. 2; Bauernhansl et al. 2018, S. 26). Mit rund 6,6 Millionen Beschäftigten und einem Umsatz von ca. 2,04 Milliarden Euro im Jahr 2018 (Statistisches Bundesamt 2019a, S. 8, Tabelle 1.1.1), haben Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes einen Anteil von ca. 23 % der Bruttowertschöpfung in Deutschland erreicht (Statistisches Bundesamt 2019b, S. 56f, Tabelle 2.1). Der größte Teil der Produktionskosten, nämlich bis zu einem Anteil von ca. 70 %, werden in der Montage verursacht (Gairola 1981, S. 9; Westkämper 2006a, S. 211). Insbesondere der hohe Anteil manueller Tätigkeiten bestimmt die Kosten wesentlich (Reinhart & Schneider 1996, S. 1239; Westkämper 2006a, S. 211). Der Anteil der Montagezeit an der Gesamtproduktionszeit eines Produktes variiert je nach Branche im Bereich von 20 % bis 70 % sehr stark (VDI-Gesellschaft 1992, S. 1). Die Arbeit trägt dazu bei, Unternehmen bei der Steigerung ihrer Produktivität und damit zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere in einer globalisierten Welt, zu unterstützen. Die 19Popper (1969, S. 105) betont die Wichtigkeit von Gradlinigkeit, Ehrlichkeit und Einfachheit beim Angehen von wissenschaftlichen Problemen. Töpfer (2010, S. 59) nennt u.a. „gute Lesbarkeit und Verständlichkeit aufgrund schlüssiger Gliederung, klarer Sprache, prägnanter Argumentation, gut nachvollziehbarer Schlussfolgerungen und aussagefähiger Schaubilder“ als Kriterien guter Forschungsarbeit. 20In Anlehnung an Schuh & Warschat (2013, S. 35), die Relevanz für die Forschungsdisziplin Wirtschaftsingenieurwesens definieren. 1 Einleitung 20 vorliegende Arbeit ist folglich auch von gesellschaftlichem Interesse, da so die Volkswirtschaft gestärkt wird. Die Ergebnisse wurden in der Praxis angewandt, um eine direkte, zielgerichtete Verwendung sicherzustellen. 1.5 Forschungsprozess und Aufbau der Arbeit Abbildung 4 zeigt den Aufbau der Arbeit in Anlehnung an die Phasen der angewandten Forschung nach Ulrich (1984, S. 193). Besonders wurde der Fokus, wie von Ulrich beschrieben, auf den Praxisbezug gelegt (blau hinterlegte Phasen). Abbildung 4: Aufbau der Arbeit in Anlehnung an den Forschungsprozess nach Ulrich (1984, S. 193) 1 Einleitung 21 Kapitel 2 befasst sich mit den Grundlagen zu manuellen Montagesystemen und der Montageablaufplanung. Zunächst wird die Montage als Teil der Produktion eingeführt und dann das soziotechnische Verständnis eines Montagesystems erläutert. Daraufhin werden die Grundlagen manueller Montagesysteme erläutert und die Montageablaufplanung vorgestellt. Kapitel 3 reflektiert bestehende Ansätze zur (teil-)automatisierten Montageablaufplanung. Es werden Anforderungen an die Methodik definiert und an diesen die bestehenden Ansätze gespiegelt. Das Kapitel schließt mit einer Bewertung der Ansätze sowie einer Ableitung des Handlungsbedarfs. Der Lösungsansatz wird in Kapitel 4 skizziert. Dazu werden Grundlagen zur Methodik betrachtet, die Idee des Benchmarks vorgestellt und dann die Struktur der Methodik ausgeführt. In Kapitel 5 wird das generische Modell eines Montagesystems entwickelt. Es werden zunächst Anforderungen an das Modell definiert, dann wird das Modell in vier Schritten – Systemabgrenzung, Merkmalsbeschreibung, Modellformalisierung und Modellprüfung – aufgebaut. Kapitel 6 befasst sich mit den Methoden und Hilfsmitteln. In Kapitel 6.1 wird zunächst eine Übersicht über die Methode gegeben. In Kapitel 6.2 wird die Erhebung der Ist-Daten beschrieben und in Kapitel 6.3 wird die Datenanalyse zur Ableitung einer Best Practice entwickelt. Kapitel 6.4 beschreibt die Anpassungen und die Implementierung der Verbesserungen. Die Besonderheiten bei verschiedenen Anwendungsfällen werden in Kapitel 6.5 thematisiert. Die prototypische Implementierung wird zum Abschluss in Kapitel 6.6 vorgestellt. Die Methodik wird schließlich in Kapitel 7 anhand von zwei Fallbeispielen validiert und kritisch reflektiert. Kapitel 8 schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Ausblick. 1 Einleitung 22 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 23 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung In diesem Kapitel wird zunächst die Montage als Teil der Produktion eingeführt (Kapitel 2.1), dann das Montagesystem als soziotechnisches System beschrieben (Kapitel 2.2). Daraufhin werden die Grundlagen manueller Montagesysteme dargelegt (Kapitel 2.3). In Kapitel 2.4 wird dann die Montageablaufplanung als Teil der Montageplanung erläutert. 2.1 Die Montage als Teil der Produktion In der Produktion werden die Produktionsfaktoren Betriebsmittel, Arbeitskräfte und Werkstoffe in einem Betrieb so in einem Produktionsprozess kombiniert, dass diese die Erzeugung von Produkten ermöglichen (Brockhaus 2018b). Zur Produktion zählen alle Unternehmensbereiche, die mittelbar oder unmittelbar an der Herstellung von Erzeugnissen teilhaben (VDI 2870a, S. 6). Die Produktion21 im engeren Sinn unterteilt sich in die Bereiche Teilefertigung und Montage (Warnecke 1995b, S. 1). Der Bereich der Teilefertigung beschreibt die Fertigung von Einzelteilen (Rohteile, montagefertige Bauteile) (Schiffer & Tempelhof 1985, S. 21). Er schließt folglich alle Prozesse zur Behandlung und Formgebung von Werkstücken ein (Schiffer & Tempelhof 1985, S. 21). Die Montage baut „Teilsysteme22 eines Produkts zu einem System höherer Komplexität mit vorgegebenen Funktionen in einer bestimmten Stückzahl je Zeiteinheit“ zusammen (Warnecke & Löhr 1973, S. 1). 21In dieser Arbeit werden in Anlehnung an Warnecke (1995b, S. 1) die Begriffe „Fertigung“ und „Produktion“, wie in der Praxis oft üblich, synonym verwendet. Produktion wird als Oberbegriff für die „Teilefertigung“ und die „Montage“ verwendet. 22Die Bezeichnung Teilsystem steht hier für ein „Einzelteil, eine[n] formlosen Stoff oder […] eine[…] Baugruppe“ (Warnecke & Löhr 1973, S. 1). 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 24 Während des Montageprozesses verändert sich die Produktstruktur. Aus einzelnen Bauteilen23 werden Baugruppen24 und später dann das fertige Endprodukt. Über die einzelnen Montagestufen – Vormontage, Baugruppenmontage, Endmontage – nimmt so die Komplexität des Produkts zu. (Miese 1973, S. 12, 86-88; Schiffer & Tempelhof 1985, S. 143; Bullinger 1986, S. 90) Nach DIN 8580 lassen sich Fertigungsverfahren, als Überbegriff für Verfahren der Teilefertigung und der Montage, in „alle Verfahren zur Herstellung von geometrisch bestimmten festen Körpern [bezeichnen]; sie schließen die Verfahren zur Gewinnung erster Formen aus dem formlosen Zustand, zur Veränderung dieser Form sowie zur Veränderung der Stoffeigenschaften ein" (DIN 8580, S. 4). Die sechs Hauptgruppen der Fertigungsverfahren sind Urformen, Umformen, Trennen, Fügen, Beschichten und Stoffeigenschaften ändern (DIN 8580, S. 4–5). Die Montage umfasst eine große Zahl an Funktionen, die in folgende Funktionskomplexe eingeordnet werden können: das Fügen, das Handhaben, das Kontrollieren, das Justieren und eine Reihe weiterer Sonderoperationen (Abbildung 5). Abbildung 5: Funktionen der Montage (in Anlehnung an Warnecke & Löhr (1973, S. 3) und Lotter (2012, S. 2)) 23Bauteil als „Bestandteil einer Ausrüstung, das nicht weiter zerlegt werden kann, ohne seine grundlegenden Eigenschaften zu verlieren“ (DIN EN ISO 10209, S. 8). 24Eine Baugruppe bezeichnet eine Menge von Einzelteilen, die zusammengesetzt wurden, um eine Funktion zu erfüllen (DIN EN ISO 10209, S. 6). 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 25 In einer Montage bestehen aufgrund der Produktstruktur Vorrangbeziehungen: Manche Montageprozesse können parallel, andere müssen nacheinander in einer bestimmten Reihenfolge ausgeführt werden (Warnecke 1995b, S. 42). Die Montage ist „einer der komplexesten Bereiche innerhalb produzierender Unternehmen“ (Reinhart & Zäh 2007, S. 602). Als letzter Prozess in der Produktion kommt der Montage eine ganz besondere Bedeutung zu: Sie vereint alle vorgelagerten Prozesse, etwa das Produktdesign und die Entwicklung, die Logistik und die Fertigung (Whitney 2004, S. 1). Am Ende der Montage steht ein Produkt25, das in der Lage ist, eine Funktion26 zu erfüllen (Whitney 2004, S. 1). In der Montage erfolgt die Integration aller Elemente eines Produkts, um die geforderte Funktionalität und Qualität der Kundenanforderungen termingerecht zu erfüllen (Westkämper 2006c, S. 9). Aufgrund ihrer Stellung im Ablauf, werden in der Montage Schwachstellen der vorgelagerten Bereiche besonders deutlich und es laufen terminliche, organisatorische sowie qualitative Fehler zusammen (Reinhart & Schneider 1996, S. 1239). Werden zum Beispiel in der Konstruktion oder in der Logistik Fehler gemacht, so fallen diese in der Montage besonders ins Gewicht (Reinhart & Schneider 1996, S. 1239). Auch die Herausforderungen des Umfelds sind, wie in Kapitel 1.1 bereits beschrieben, besonders in der Montage spürbar (Lotter 1986, S. 328; Gagsch & Herbst 2001, S. 37; März & Langsdorff 2001, S. 3). 2.2 Das Montagesystem als soziotechnisches System Im Folgenden wird das dieser Arbeit zu Grunde liegende Verständnis eines Montagesystems hergeleitet. Es werden zunächst der Systembegriff (Kapitel 2.2.1) und die Grundlagen eines soziotechnischen Systems (Kapitel 2.2.2) erläutert. Daraufhin wird das Montagesystem als soziotechnisches System beschrieben (Kapitel 2.2.3). 2.2.1 Systembegriff Die Systemtheorie befasst sich mit dem Formulieren und Ableiten von Modellen, Prinzipien und Gesetzen, die sich für alle Systeme, unabhängig von deren Unterklassen, Komponenten oder Beziehungen anwenden lassen (Bertalanffy 1984, S. 32). Sie beinhaltet Methoden, die es erlauben, hochkomplexe Probleme zu gestalten und zu analysieren (Patzak 1982, S. 15; Haberfellner et al. 25Ein Produkt wird im Allgemeinen definiert als „Ergebnis eines Prozesses“. Prozess wiederum als „Satz von in Wechselbeziehung oder Wechselwirkung stehenden Tätigkeiten, der Eingaben in Ergebnisse umwandelt“. (DIN EN ISO 9000, S. 18) 26Funktion bezeichnet die Aufgabe oder den Zweck, der erreicht oder geplant wurde (DIN EN ISO 10209, S. 12). 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 26 2015, S. 52). Zudem ermöglicht sie eine übersichtliche Beschreibung der Zusammenhänge in Umwelt, Technik und Gesellschaft (Ropohl 2012, S. 10). Durch die Abbildung von Systemen in Modellen werden ihre komplexen Zusammenhänge deutlich (Haberfellner et al. 2015, S. 39). Die Vorteile des Systemansatzes liegen insbesondere in der Strukturierungshilfe durch elementare Denkmodelle und dem Zerlegen eines Problems in seine Teilprobleme (systemorientiertes Strukturieren) (Patzak 1982, S. 6–7). Weiter ermöglicht der Systemansatz ein strukturiertes, effizientes und zielgerichtetes Vorgehen zur Lösung von Problemen (systemorientiertes Vorgehen) (Patzak 1982, S. 6–7). Außerdem schafft die Systemtechnik durch ihre einheitliche Sprache einen Rahmen, um auch zwischen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen und Disziplinen zu vermitteln (Ropohl 2009, S. 88). Vorteil eines Denkens in Systemen ist auch, dass Probleme durch die Betrachtung der Umgebung nicht zu eng eingegrenzt werden (Haberfellner et al. 2015, S. 44) und ganzheitlich gedacht wird (Ropohl 2012, S. 20). Ein System bezeichnet eine „Menge miteinander in Beziehung stehender Objekte, die in einem bestimmten Zusammenhang als Ganzes gesehen und als von ihrer Umgebung abgegrenzt betrachtet werden“ (DIN EN ISO 10209, S. 24). Beer (1970, S. 24) setzt den Begriff System mit dem Wort Konnektivität gleich, um zu betonen, dass die Teile eines Systems miteinander in Beziehung stehen. Die Teile sind voneinander abhängig und das Verhalten des Gesamtsystems wird vom Zusammenwirken aller einzelnen Teile beeinflusst (Ulrich & Probst 1995, S. 30). Ein System kann sich so deutlich von seinen einzelnen Teilen unterscheiden und Eigenschaften aufweisen, die die einzelnen Teile nicht haben (Ulrich & Probst 1995, S. 36). Abbildung 6 zeigt die Grundbegriffe des Systemdenkens in ihrer Beziehung zueinander. Abbildung 6: Grundbegriffe des Systemdenkens (in Anlehnung an Haberfellner et al. (2015, S. 32)) 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 27 Wie in der Abbildung zu sehen, bestehen Systeme aus einzelnen Elementen, die jeweils Funktionen und Eigenschaften haben (Haberfellner et al. 2015, S. 32). Beziehungen, zum Beispiel Informationsflüsse, Materialflüsse, Wirkzusammenhänge, Lagebeziehungen, verbinden die einzelnen Elemente (Haberfellner et al. 2015, S. 32). Ein System wird gegenüber seiner Umgebung abgegrenzt (Systemgrenze) (Patzak 1982, S. 25–26). Diese Abgrenzung kann weitgehend, in Abhängigkeit von der Zweckmäßigkeit und der Problemstellung, beliebig gewählt werden (Patzak 1982, S. 25–26). Jeder Mensch konstruiert ein System anders und setzt die Systemgrenze unterschiedlich an, in Abhängigkeit von seiner Einstellung, seiner Erfahrung, der zu lösenden Aufgabe, seinem Interesse usw. (Ulrich & Probst 1995, S. 34–35). Die Begriffe Umgebung oder Umfeld eines Systems bezeichnen Elemente oder andere Systeme, die zwar vom System beeinflusst werden oder das System selbst beeinflussen können, jedoch selbst nicht innerhalb der Systemgrenze liegen (Haberfellner et al. 2015, S. 33). Jedes System ist wiederum Teilsystem eines übergeordneten Systems (Supersystem) und hat eigene Untersysteme (Subsysteme) (Patzak 1982, S. 214; Ropohl 2012, S. 74). Auch kann jedes Element in einem System ebenfalls wieder als System aufgefasst werden, welches dann in seine Elemente aufgespalten werden kann (Haberfellner et al. 2015, S. 34). Ein System hat Zustands-, Wirk- und Verhaltenseigenschaften (Patzak 1982, S. 33). Im Folgenden wird eine Auswahl an Kriterien genannt, die eine Klassifikation und Beschreibung von Systemen erlauben. Zweck und Ziel von Systemen Der Zweck eines Systems wird vom Systemumfeld bestimmt und gibt die Funktionsbedingungen vor. Das Ziel eines Systems hingegen wird entschieden, ist folglich mit Wahlfreiheit und Willensbildungsprozessen verbunden. Das Ziel beschreibt einen erstrebenswerten Zustand und kann sich innerhalb der vom Umfeld gesetzten Funktionsbedingungen bewegen. (Ulrich 1978, S. 13, 100-101) Offenes und geschlossenes System Ein System wird als offen bezeichnet, wenn es Beziehungen zur Umwelt gibt (Ropohl 2012, S. 91). Geschlossene Systeme hingegen sind Systeme, welche keine Beziehungen zur Umwelt unterhalten und folglich isoliert sind (Bertalanffy 1984, S. 39). 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 28 Statisches und dynamisches System Statische Systeme zeigen keine Änderung ihres Verhaltens (Ropohl 2012, S. 92). Dynamische Systeme hingegen zeigen ein in der Zeit variierendes Verhalten bzw. Zustandsänderungen (Forrester 1972, S. 23; Patzak 1982, S. 47; Ropohl 2012, S. 91). Komplexität eines Systems Um den Begriff der Komplexität zu beschreiben, muss zunächst der Begriff der Kompliziertheit eingeführt werden. Kompliziertheit beschreibt die Verschiedenheit und Anzahl der Elemente und ihre Beziehungen (Buslenko 1972, S. 16; Ulrich & Probst 1995, S. 61). Ein komplexes System ist nicht nur kompliziert in der Zusammensetzung, es verändert sich auch laufend. Unter der Komplexität eines Systems wird also die Fähigkeit verstanden, „in einer gegebenen Zeitspanne eine große Zahl von verschiedenen Zuständen annehmen zu können“ (Ulrich & Probst 1995, S. 58). Komplexe Systeme können sich außerdem teilweise selbst organisieren. Überdies können sie durch eine Anpassung ihrer Struktur oder Elemente auf Umwelteinflüsse reagieren und auch dann einen stabilen Zustand erreichen (Warnecke 1995a, S. 3). Deterministische und probabilistische Systeme Ein determiniertes System ist „eindeutig und in Sätzen prognostizierbar“ (Patzak 1982, S. 21). Es existiert hier keine Ungewissheit, das heißt, das Verhalten des Systems ist stets voraussagbar (Beer 1970, S. 27). Ein probabilistisches System dagegen lässt im Detail keine Voraussage zu. Bei längerem Studium des Systems wird jedoch die Wahrscheinlichkeit größer, das richtige Systemverhalten vorherzusagen. Beer (1970) merkt bei der Unterscheidung von deterministisch und probabilistisch an, ob ein probabilistisches System nicht eigentlich ein deterministisches System ist, welches wir jedoch noch nicht verstehen. (Beer 1970, S. 28) 2.2.2 Soziotechnisches System Um den Begriff des soziotechnischen Systems zu erklären, werden zunächst soziale und technische Systeme eingeführt und auf dieser Grundlage dann das soziotechnische System hergeleitet. Ein soziales System besteht aus Menschen, ihren Werten, Überzeugungen, Einstellungen, Bedürfnissen, Fantasien, Emotionen, Handlungen und Interaktionen (Blumberg 1988, S. 54). 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 29 Soziale Systeme können sich über mehrere Stufen selbst organisieren und sind besonders entwicklungsfähig. Entwicklung bezeichnet die Neugestaltung von Zweck und Zielen sowie die Erweiterung des Verhaltensrepertoires. Entwicklungsfähig bedeutet zum Beispiel, dass diese Systeme neue Lösungen bzw. Lösungswege finden und ihre Handlungen in Frage stellen (Ulrich & Probst 1995, S. 90–92). Ein technisches System besteht aus Maschinen, Werkzeugen und Transfereinrichtungen, die in einer vorbestimmten Weise organisiert und durch den strukturierten Fluss von Informationen, Materialien und Energie verbunden sind (Blumberg 1988, S. 54). Technische Systeme sind bestimmt durch ihren Zweck (Maucher et al. 2002, S. 129). Zu ihnen gehören keine Menschen, aber Artefakte, die vom Menschen erzeugt worden sind (Maucher et al. 2002, S. 129). Sie befolgen die Gesetze der Physik, Chemie und Mathematik (Blumberg 1988, S. 54). Weiter haben sie einen bestimmten In- und Output, wobei der Output in Abhängigkeit vom Input vorhergesagt werden kann (Maucher et al. 2002, S. 129). Das Designkriterium ist die Effizienz, um den Gewinn und die Wertschöpfung zu maximieren sowie die Kosten und die Zeit zu minimieren (Blumberg 1988, S. 54). Soziotechnische Systeme bestehen im Allgemeinen aus den Komponenten Mensch, Mittel sowie Aufgaben und Zweck bzw. Ziele (Patzak 1982, S. 32). Sie sind die komplexesten Systeme, da diese Bestandteile vielfältige Ausprägungen haben können (Patzak 1982, S. 32). Soziale und technische Systeme vereinen sich in Form eines Arbeits- oder Handlungssystems (Ropohl 2009, S. 141). Geprägt wurde der Begriff von Trist & Bamforth (1951), die die Notwendigkeit einer gemeinsamen Betrachtung und Optimierung der technischen und sozialen Subsysteme betonen. Die Aufgabe verbindet das technische und das soziale System (Blumberg 1988, S. 56). Das primäre Arbeitssystem als ein wichtiger Vertreter des soziotechnischen Systems hat zur Aufgabe, ein definiertes Ergebnis – durch Transformation des Inputs in einen Output – zu erzeugen (Sydow 1985, S. 26–28). Abbildung 7 visualisiert das primäre Arbeitssystem als soziotechnisches System. 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 30 Abbildung 7: Das primäre Arbeitssystem als soziotechnisches System (in Anlehnung an Sydow (1985, S. 29)) Ein soziotechnisches System hat sowohl innere Beziehungen, nämlich zwischen dem technischen und dem sozialen System, als auch Beziehungen zur Systemumwelt (Sydow 1985, S. 27). Soziotechnische Systeme sind folglich offen (Ulich 2013, S. 4). Da soziotechnische Systeme von ihrer Umgebung abhängig sind, müssen sie, um überleben und sich entwickeln zu können, effektive Umweltbeziehungen aufbauen und aufrechterhalten (Blumberg 1988, S. 55). Eine Optimierung des soziotechnischen Systems gelingt nur in gemeinsamer Optimierung des technischen und des sozialen Systems sowie der Anpassung des Produktionssystems an die Umweltanforderungen (Blumberg 1988, S. 55). Kennzeichnend für soziotechnische Systeme ist außerdem deren Dynamik (Ulich 2013, S. 4). Im Gegensatz zur Trennung der Vorbereitung bzw. Planung von der Ausführung nach Taylor, befürwortet der soziotechnische Ansatz eine Einheit von Vorbereitung, Ausführung und Kontrolle auf der untersten Ebene in einem Unternehmen (Dankbaar 1997, S. 570). Der soziotechnische Systemansatz betont außerdem das Prinzip der Selbstregulierung (Dankbaar 1997, S. 572). Eine Modellierung von soziotechnischen Systemen kann nach Maucher et al. (2002, S. 133–134) nur in diesen erfolgen. Der Modellierende muss in das soziotechnische System hineingehen, um ein fundiertes Verständnis dafür entwickeln zu können – es reicht nicht aus, diese nur von außen zu betrachten (Maucher et al. 2002, S. 133–134). 2.2.3 Montagesystem Ein Unternehmen beinhaltet technische (z.B. Werkzeuge, Maschinen) und soziale Systeme (Menschen), welche durch die Erzeugung von Produkten einen Wert erzeugen. Die Arbeit verbindet das soziale und das technische System. (Westkämper 2006a, S. 33) 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 31 Produktionssysteme beschreiben eine Menge an Einzelfunktionen, die voneinander abhängig sind und gemeinsam einer Leistungserstellung dienen (Westkämper & Zahn 2009, S. 28). Auch sie sind soziotechnische Systeme (Heinen et al. 2008, S. 20; Westkämper & Zahn 2009, S. 4). Die Montage, als Teilbereich der Produktion, kann ebenfalls als System beschrieben und analysiert werden (Warnecke & Löhr 1973, S. 1; Eversheim et al. 1981, S. 6). Nachfolgende Abbildung 8 zeigt das Montagesystem als Teil des Produktionssystems in Anlehnung an Eversheim27. Abbildung 8: Das Montagesystem als Teil des Produktionssystems (in Anlehnung an Warnecke & Löhr (1973, S. 1) und Eversheim et al. (1981, S. 6)) Das Montagesystem ist ebenfalls ein Arbeitssystem. Demgemäß ist das Montagesystem, wie in Kapitel 2.2.2 beschrieben, ebenfalls als soziotechnisches System zu verstehen und wird durch die Eigenschaften in Tabelle 2 definiert. 27Weitere Beschreibungen eines Produktionssystems sind zum Beispiel in Warnecke & Löhr (1973, S. 1) oder Wiendahl (2010, S. 10–11) zu finden. 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 32 Tabelle 2: Eigenschaften eines soziotechnischen Montagesystems28 Merkmal Montagesystem Elemente und Beziehungen Ein Montagesystem besteht aus Elementen, die miteinander in Beziehung stehen. Subsystem Ein Montagesystem beinhaltet Teilsysteme (Warnecke & Löhr 1973, S. 2). Subsysteme sind zum Beispiel das technische und das soziale System. Übergeordnetes System Das Montagesystem ist ein Subsystem des Produktionssystems (Warnecke & Löhr 1973, S. 1). Zweck und Ziel Ein Montagesystem erfüllt einen bestimmten Zweck: die Montage von Produkten oder Baugruppen (Warnecke & Löhr 1973, S. 1). Ziele des Montagesystems sind eine hohe Variabilität, Qualität, Geschwindigkeit und Wirtschaftlichkeit sowie eine Effizienzsteigerung in diesen Zieldimensionen (Erlach 2010, S. 14). Weitere Ziele liegen im Bereich der Mitarbeitenden, etwa eine hohe Zufriedenheit und Innovationsbereitschaft (Feldmann et al. 2014, S. 602). Offenheit Ein Montagesystem hat Beziehungen zu seiner Umwelt, einen In- und einen Output und ist deshalb ein offenes System. Dynamik Ein Montagesystem ist Änderungen unterlegen, ist also dynamisch. Diese Änderungen sind zum Beispiel eine Änderung im Produktspektrum oder den Stückzahlen, wechselnde Mitarbeitende, aber auch die Entwicklung der Mitarbeitenden (Zunahme der Erfahrung usw.). Komplexität Ein Montagesystem besteht aus einer Vielzahl an Elementen mit vielfältigen Beziehungen. Es kann darüber hinaus viele verschiedene Zustände annehmen, ist also komplex. Ein Montagesystem kann sich außerdem selbst organisieren, was ebenfalls für dessen Komplexität spricht. Probabilität Das Montagesystem ist ein probabilistisches System, da die Verhaltensweise eines Montagesystems nicht oder nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorhersehbar und in einer komplexen Umwelt eingebettet ist. Die Elemente eines Montagesystems werden in der Literatur unterschiedlich beschrieben: Spur & Helwig (1986, S. 593–594) definieren materielle, dispositive und operative Komponenten eines Montagesystems. Materielle Komponenten sind das Montageobjekt und die Montagemittel. Dispositive Komponenten sind die Montageplanung und Montagesteuerung. Operative 28Die Eigenschaften wurden zum Teil in Anlehnung an Warnecke (1995a, S. 1–4) hergeleitet, der dies für eines Produktionssystem herleitet. 2 Manuelle Montagesysteme und Montageablaufplanung 33 Komponenten sind das Montagepersonal und der Montageprozess. Eingangs- und Ausgangsgrößen in das Montagesystem sind Material, Information und Energie. Bullinger (1986, S. 148) hingegen beschreibt technische (technische Ausstattung), organisatorische (Organisationsform) und räumliche Komponenten (Layouterstellung und Materialbereitstellung) eine