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Autor(en): Lu, Xiaoli
Titel: Die Raumdarstellung im erzählenden Werk um 1900
Sonstige Titel: The spatial structure of narratives around 1900
Erscheinungsdatum: 2011
Dokumentart: Dissertation
URI: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:93-opus-67691
http://elib.uni-stuttgart.de/handle/11682/5380
http://dx.doi.org/10.18419/opus-5363
Zusammenfassung: In der Literatur existiert eine eigene Welt, die mit Raum und Zeit verbunden ist. Im 19. Jahrhundert gewinnen beide, Raum und Zeit, an Bedeutung als bewusst eingesetzte Gestaltungselemente. Es bilden sich zwei Grundrichtungen heraus, eine mit dem Erzählgeschehen verknüpfte Semantisierung in der Klassik und in der Romantik und eine betonte Fixierung des Geschehens in der realen Welt durch genaue Zeit- und Ortsangaben im Realismus. Die Semantisierung von Raum und Zeit führt zu einer Bedeutungssteigerung, welche beiden Aspekten der Erzählung eine eigene intentionale Poetizität verleiht, während die realistische Darstellung die Illusion einer faktualen Erzählung erzeugen soll. Lessings Kennzeichnung der Dichtung im Laokoon (1766) als eine zeitliche Kunst im Unterschied zur räumlichen bildenden Kunst bietet eine mögliche Erklärung dafür, dass die Literaturwissenschaft lange Zeit der Analyse der Zeitstruktur eines Werks ein größeres Interesse entgegengebracht hat als der Analyse der Raumstruktur. Trotz zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema seit den Arbeiten Hermann Meyers in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts liegt noch keine abschließende Poetik des Raums vor. Besondere Beachtung verdienen Jurij M. Lotmans Raumsemantik in Die Struktur literarischer Texte (1972) und Gerhard Hoffmanns umfangreiche Arbeit Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit (1978). Die aus der englischen und amerikanischen Literatur gewonnene Typologie in Hoffmanns Arbeit lässt sich allerdings nicht auf die deutsche Literatur um 1900 übertragen. Die vorliegende Arbeit umfasst Einzeluntersuchungen zur intentionalen Poetizität des Raums in Werken von Arthur Schnitzler, Eduard von Keyserling, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka und Rainer Maria Rilke. Die Ergebnisse sind gedacht als eigenständige Interpretation der ausgewählten Erzähltexte und als Beitrag zu einer zusammenhängenden Analyse der Raumdarstellung. Die literaturwissenschaftliche Bedeutung der ausgewählten Texte liegt in der individuellen Reaktion der Erzähler auf die besondere geistesgeschichtliche und literaturhistorische Situation der Zeit um 1900. Einschneidende Veränderungen im Weltbild, die verbunden sind mit den Werken von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Siegmund Freud und Ernst Mach, führen zu einer Krise des autonomen Individuums, die das Denken des bürgerlichen 19. Jahrhunderts bestimmt hatte. Die bisherigen ontologischen Ordnungskriterien über das Verhältnis des Menschen zur Welt verlieren ihre Gültigkeit. In engem Zusammenhang zur anthropologischen Krise entsteht eine Krise des Erzählens. Das Erzählgeschehen bewegt sich „fort aus der deutlichen Wirklichkeit“ (Hermann Bahr) ins Innere; eine Sprachkrise weckt gleichzeitig Zweifel an der Möglichkeit der Erfassung der Wirklichkeit in Begriffen. Wenn der Autor an die Grenze des Mitteilbaren stößt, sucht er nach Erzählverfahren, die Verborgenes im Äußeren bildhaft vermitteln. In der Raumdarstellung der untersuchten Texte konkretisiert sich dieses Bedürfnis. Ein Kennzeichen der Literatur zwischen Realismus/Naturalismus und Expressionismus ist ihr Stilpluralismus, das Nebeneinander von Tradition und Moderne. Arthur Schnitzler, Eduard von Keyserling und Thomas Mann greifen auf die bereits bekannten Verfahren der Raumsymbolik der Klassik und der stimmungsbestimmten Seelenlandschaft der Romantik zurück, während Hugo von Hofmannsthal, Frank Kafka und Rainer Maria Rilke nach neuen Formen der Semantisierung suchen. In diesem Zusammenhang werden drei Typen konstruktiver Bedeutungserzeugung durch Räume unterschieden: der illustrierende (Stimmungs-)Raum, der kommentierende (symbolische) Raum und der darstellende (psychogene) Raum. Die Untersuchung von Einzelaspekten der Raumdarstellung wie der Raumstruktur des Texts, des Bewegungsprofils des Protagonisten, der Behandlung der Grenze im Sinn von Jurij M. Lotman und der Einzelmotive Natur, Garten, Haus, Fenster und Reise erschließt deren Beitrag zur Bedeutungsvermittlung der Texte mit der Tendenz zur Desillusionierung, Verdüsterung und Ausweglosigkeit. In der Literatur um 1900 treten neben den strukturierten dreidimensionalen Raum planimetrische und unstrukturierte Räume. Die Derealisierung der Welt im Denken der Zeit findet ihre Entsprechung in der Derealisierung des Raums in der erzählenden Literatur.
In literature there exists an own, with space and time connected world. In the 19th century both, space and time, gain importance as consciously used elements. Two basic tendencies are formed - the semantization linked to the narrative in classicism and romanticism and the narrative fixed by precise location in space and time in realism. The semantization of space and time constitutes an enhancement of meaning bestowing a special intentional poetry upon both aspects of the narrative, whilst the realistic depiction creates the illusion of a factual narration. Lessing's characterization of poetry in Laokoon (1766) as temporary art compared to spatial visual arts provides a potential explanation of the phenomenon, why literary study for a prolonged period of time was more interested in analyzing the temporal structure of a piece of literature than its spatial structure. Despite multiple publications about this issue starting with the works of Hermann Meyer in the 1950's there is still no conclusive poetry of space at present. Special consideration shall be given to the works of Jurij M. Lotman The Structure of Literary Texts (1972) and Gerhard Hoffmann's Space, Situation, Narrated Actuality (1978). However, the classification of types compiled from English and American literature in Hoffmann's work is not applicable to German literature around 1900. This work contains separate analyses into the intentional poetics of space from the works of Arthur Schnitzler, Eduard von Keyserling, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka and Rainer Maria Rilke. The results are intended to be self-contained interpretations of the selected narratives and as a contribution to a coherent analysis of the depiction of space. The importance for the study of literature of the selected works is determined by the individual reaction of the narrator to the specific history of ideas and literary historical situation around 1900. Far-reaching changes of the view of the world connected to the works of Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Siegmund Freud and Ernst Mach lead to a crisis of the independent individual governing the thinking of the middle classes during the 19th century. The ontological classification criteria concerning the relation between man and nature lose their validity. In close relation to the anthropological crisis emerges a crisis of narration. The reported events move away from distinctive reality, “fort aus der deutlichen Wirklichkeit” (Hermann Bahr), towards the inner self. A crisis of speech simultaneously stirs doubts about the possibility of describing reality in conceptual terms. As the author reaches the limits of communicability, he will look for ways of narration to communicate what is hidden in outward metaphors. This need manifests itself in the depiction of space in the analyzed works. One characteristic of literature between realism and naturalism on the one side and expressionism on the other is its plurality of style, its coexistence of tradition and modernity. Arthur Schnitzler, Eduard von Keyserling and Thomas Mann resort to the already known methods of spatial symbolism of classicism and the mood governed landscape of the soul in romanticism whereas Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka and Rainer Maria Rilke look for new ways of semantization. In this context three types of constructively created meanings by means of using spaces are discerned: the illustrating space (of moods), the commentary (symbolic) space and the depicting (psychogenic) space. Analyzing singular aspects of the depiction of space like the structure of space within the narrative, the movement profile of the protagonists, the treatment of the boundary in terms of Jurij M. Lotman and the separate motifs nature, yard/garden, house, window and travel open up their distinctive contribution to communicating the meaning of the narrative containing a tendency towards disillusionment, increasing dreariness and hopelessness. Literature around 1900 contains structured three-dimensional spaces as well as planimetric and unstructured spaces. The derealization of nature in contemporary thinking has its equivalent in derealization of space in narrating literature.
Enthalten in den Sammlungen:09 Philosophisch-historische Fakultät

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