Holistische Entwicklung und Untersuchung fassadenintegrierter Wildbienen-Nisthilfen

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2025

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Trotz ihrer wesentlichen ökologischen und wirtschaftlichen Rolle erleben Insekten weltweit einen stetigen Rückgang in Anzahl und Vielfalt. Die zunehmende Urbanisierung und die Umsetzung von Klimaschutzzielen im Gebäudesektor durch Sanierungsmaßnahmen führen zur Flächenversiegelung und damit zur Verknappung von Lebensräumen für zahlreiche Tierarten. Zwei direkte Folgen dieser Entwicklungen sind der Verlust der biologischen Vielfalt und das schwindende Naturerlebnis in urbanen Gebieten. Angesichts dessen sind dringend Veränderungen der gebauten Umwelt erforderlich, die durch wirksame, realisierbare und breit akzeptierte Maßnahmen umgesetzt werden. Dabei bedarf es einer holistischen Betrachtung diverser Aspekte, um tragfähige Lösungen zu entwickeln. Um insbesondere Wildbienen im urbanen Bereich zusätzlichen Lebensraum bieten zu können, widmet sich diese Arbeit der baulichen Integration von Wildbienen-Nisthilfen in Gebäudefassaden unter bauphysikalischen, stadtökologischen und gesell-schaftlichen Gesichtspunkten. Aufbauend auf dem aktuellen Stand von Forschung und Baupraxis wird in dieser Arbeit ein interdisziplinärer methodischer Lösungsansatz verfolgt, der verschiedene Betrachtungsebenen miteinander verknüpft. Dieser Ansatz umfasst rechnerische Modellierungen, die Entwicklung und den Bau von Testbauten, experimentelle Erhebungen zu den biotischen und abiotischen Eigenschaften der Nisthilfen und ihres Umfelds sowie zur subjektiven Einstellung potenziell betroffener Gruppen zum Forschungsgegenstand. Zentraler Bestandteil der Arbeit sind Entwicklung und Aufbau sowie Evaluation von jeweils drei Fassadensystemen mit integrierten Nisthilfen im Testmaßstab an zwei Standorten in Stuttgart-Vaihingen. Die Fassaden und Nisthilfen berücksichtigen die Erkenntnisse aus Voruntersuchungen zur Einhaltung sowohl bauphysikalischer als auch faunistischer Anforderungen und ermöglichen die Datenerhebung vor Ort. Als Fassadentypen werden ein Wärmedämmverbundsystem, eine vorgehängte hinterlüftete Fassade sowie eine Holzleichtbauweise und als Nisthilfen-Materialien Hartholz, Röhrchen, Ton und Lehm-Sand-Gemisch gewählt. Der experimentelle Untersuchungszeitraum eines Jahres (2021 bis 2022) an den Testaufbauten und in deren Umfeld besteht somit aus Frühling-, Sommer- und Winterperioden um aussagekräftige Ergebnisse sowohl über den Wärmebrückeneinfluss, hygrothermische Eigenschaften als auch den Nistgang-Belegungsgrad zu erhalten. Um dies mit gesellschaftlichen Belangen und subjektiven Erwartungen in Einklang zu bringen sowie Chancen zu identifizieren, wurden zwei Online-Umfragen (2019 und 2022) durchgeführt. Diese verstehen sich methodisch als Vor- und Hauptstudie. Beide umfassen vergleichbare methodische Ansätze, einschließlich der Erhebung soziodemografischer Daten. Darüber hinaus widmen sie sich in unterschiedlichem Detailgrad jeweils spezifischen Fragestellungen, wie etwa dem potenziellen Einbau des Systems. Die Ergebnisse der quantitativen Untersuchung zeigen, dass aus Sicht der in dieser Arbeit beteiligten drei Fachdisziplinen, dem Einbau von Nisthilfen für Wildbienen in Fassaden nichts entgegensteht, sofern diese die hier definierten Zielkriterien einhalten, d.h. sie sowohl bauphysikalisch unbedenklich als auch tiergerecht gestaltet sind. Die Rahmenbedingungen, die für eine erfolgreiche Integration von Wildbienen-Nisthilfen in Fassaden erfüllt sein müssen, können mit dem hier entwickelten Vorgehen ausreichend genau bestimmt werden und gliedern sich in konstruktive Art (Material, Fassade und Ausführung), bezogen auf die Gebäudeumgebung sowie gesellschaftlich beeinflusste Rahmenbedingungen. Die stadtökologische Untersuchung der Rahmenbedingungen der Testbau-Umgebung ergab, dass beide Untersuchungsstandorte über Requisiten in unterschiedlicher, aber ausreichender Zusammensetzung im adäquaten Radius für Wildbienen verfügten. Dominante Pflanzenfamilien waren an beiden Standorten Asteraceae, Fabaceae sowie Rosaceae. Zusammen mit dem Vorkommen von Habitatstrukturen, wildbienen-relevanter Blüten mit hohem Pollenscore wie Taraxum officinale und Centaurea jacea sowie hohen Blühhäufigkeiten lässt dies auf eine relativ gute Habitatqualität für gewisse Wildbienenarten schließen. Konstruktiv lässt sich festhalten, dass Bauweisen wie das untersuchte Wärmedämm-verbundsystem und die vorgehängte hinterlüftete Fassade in Kombination mit Materialien wie Hartholz und Röhrchen besonders geeignet für die Ansiedlung von Wildbienen sind. Die stationär berechneten hygrothermischen Kenngrößen wie die innenseitige Oberflächentemperatur weisen im ungünstigsten Fall immer noch 4 Kelvin zum Grenzwert von 12,6 °C auf und schließen Tauwasser aufgrund der Nisthilfen in allen Fassaden aus. Auch können die mittleren U-Werte flächenbezogen eingehalten werden. Dabei wiesen Holz und Röhrchen hohe Besetzungsraten, geringe kritische Bedingungen in den Nistgängen sowie eine höhere Energieeffizienz verglichen zu Ton oder Lehm auf. Dies belegte u.a. die Anzahl der Tage der Messwertpaare im idealen Überwinterungsbereich bei potenzieller Schimmelfreiheit und niedrigen Nistgang-temperaturen. Als Zielkriterium werden hier 58 Wintertage im günstigen Bereich definiert. Die vorgehängte hinterlüftete Fassade erreichte hier 77 und 75 Tage in Holz respektive in Schilf. Auch die gemessenen Höchsttemperaturen im Sommer, welche bei den organischen Materialien nur in Schilf der Holzleichtbauweise und des Wärmedämmverbundsystems für ca. drei Stunden an die Grenztemperatur von 40 °C heranreichten, sind Indiz für die hohen Sommer-Komfort-Bedingungen in Holz und Schilf. Zudem zeigte der Vergleich der Nestverschlüsse mit einer Gesamtanzahl von Verschlüssen in Holz und Röhrchen von ca. 700 zu Ton und Lehm von ca. drei die geringere Annahme in letztgenannten Nisthilfenmaterialien. In Hartholz wurden hierbei hohe Belegungsgrade insbesondere der kleineren Durchmesser (3-4 mm) festgestellt. Wie aufgrund der hohen Wärmeleitfähigkeiten zu erwarten, lieferten Holz und Schilf kleinere Wärmebrückenverlustkoeffizienten als Ton und Lehm-Sandgemisch. Letztere bedingen somit die größte Wärmebrücke ergo winterliche Energieverluste und sommerliche Wärmeeinträge. Die Holzleichtbauweise erwies sich hinsichtlich des Komfortbereichs für die Wildbienen als weniger ideal. Im Fassadenvergleich traten hier in der Gewichtung der Zielkriterien hinsichtlich Komfortbereiche sowie im Wärmedurch-gangskoeffizienten schlechtere Bedingungen auf. Es wurden durchschnittlich die höchsten Sommer-Temperaturen je Material ermittelt, insbesondere am Standort Birkhof. Die methodische Gestaltung der Befragungen ermöglichte aussagekräftige Daten. Aus der deskriptiven Auswertung dieser, ergänzt um die statistischen Tests Cramers V und Spearman-Korrelationskoeffizient, lässt sich eine positive gesellschaftliche Resonanz für das Konzept erkennen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Akzeptanz von Insekten in der Hausfassade maßgeblich von den Kategorien Tiereigenschaften, erwartete Gefahr, Emotionen (inkl. deren Valenz) sowie Vorwissen über diese Tiere abhängt. Schmetterlinge und Wildbienen galten in diesen Stichproben in Übereinstimmung mit anderer Literatur als favorisierte Tiergruppen. Zudem wurde eine Integration der Nisthilfen in öffentlichen Gebäuden der Nutzung an privaten Fassaden vorgezogen. Pilot- und Vorzeigeprojekte könnten die gesellschaftliche Akzeptanz zusätzlich fördern. Eine umfassende Betrachtung der Ergebnisse verdeutlicht das Anpassungspotenzial von Städten und Gebäuden für das Zusammenleben von Menschen und Tieren. Weitere Forschung wird zur Verbesserung der Materialien, detaillierten Messmethoden und Standardisierung empfohlen, um das Potenzial dieser Maßnahmen voll auszuschöpfen und gleichzeitig thermische und mikroklimatische Anforderungen zu gewährleisten. Die in dieser Arbeit entwickelten Nisthilfen lassen sich sowohl bei Neubauten als auch bei der Sanierung von Fassaden integrieren. Die hier entwickelte Methodik sowie die daraus abgeleiteten Gestaltungsempfehlungen und Daten zeigen, dass fassadenintegrierte Wildbienen-Nisthilfen einen Beitrag zu mehr städtischer Natur leisten können, insbesondere in Kombination mit geeigneter Begrünung und Strukturvielfalt im Umfeld. Zwar können diese Maßnahmen den Verlust komplexer Lebensräume und Schutzmaßnahmen außerhalb urbaner Gebiete nicht vollständig ausgleichen, jedoch bieten sie eine wertvolle Ergänzung zur Förderung der biologischen Vielfalt, zur Schaffung neuer Lebensräume sowie deren Vernetzung und zur Sensibilisierung der Stadtbevölkerung. Auf diese Weise schaffen sie integrative Flächen, die Mensch, Fauna und Flora gleichermaßen zugutekommen.

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